Nach dem Sieg in AfghanistanDie Taliban wollen die Macht mit niemandem teilen
Die Taliban wollen eine neue Regierung vorstellen. Die grosse Not könnte sie zwingen, bisherige Gegner ins Kabinett zu holen. Doch sie setzen auch weiter auf Krieg.
Der Schritt von einer Terrormiliz hin zu einer funktionierenden Regierung ist gross. Doch im Präsidentenpalast liefen am Donnerstag bereits die Vorbereitungen für die Einführungszeremonie der neuen Machthaber. Beobachter in der afghanischen Hauptstadt rechnen damit, dass es Ende Woche so weit sein könnte und die neue Führung präsentiert wird. Das wären nicht ganz drei Wochen nach Präsident Ashraf Ghanis Flucht aus seinem Amtssitz.
Bald darauf gingen Bilder um die Welt von den Taliban, die nach ihrem Siegeszug durch das Land auch die Hauptstadt ohne Widerstand eingenommen hatten. Die Taliban an Ghanis Tisch, die Kämpfer mit der Hand am Abzug ihrer Maschinengewehre: Das war das Bild, welches das Scheitern der USA und ihrer Verbündeten am Hindukusch dokumentiert hat. Vor der westlichen Intervention waren die Taliban in Afghanistan an der Macht, danach sind sie es auch wieder.
Taliban müssen Spagat hinbekommen
Kurz vor ihrer Bekanntgabe waren immerhin Grundrisse der neuen Regierung zu erkennen: Ein Taliban-Sprecher sagte, dass ihr Chef Hibatullah Akhundzada der Regierung als religiöser Anführer vorstehen soll, sein Stellvertreter Mullah Abdul Ghani Baradar soll die Tagesgeschäfte führen. Baradar stammt aus Kandahar, dem Machtzentrum der Taliban, und war enger Vertrauter des Gründers der Miliz, Mullah Omar.
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 soll er mit dem damaligen Interimspräsidenten Hamid Karsai Kontakt gehalten haben, doch letztlich streckte der Westen nicht die Hand zu den Taliban aus. Ihre verbliebenen Kämpfer gingen in den Untergrund, vor allem nach Pakistan, wo Baradar 2010 verhaftet wurde. Er leitete bislang das politische Büro der Taliban in Doha – eine Art Aussenministerium, das auch den Abzug mit den USA verhandelt hat, was den Siegeszug der Taliban ermöglichte.
Die Taliban müssen nun aber einen politischen Spagat hinbekommen. Schon lange vor der Einnahme Kabuls, als sie im Land Distrikt um Distrikt einnahmen, sollen sie bei Kontakten mit Emissären der alten Regierung von Präsident Ghani siegessicher erklärt haben: Wir lassen euch leben, aber eine Machtteilung wird es mit uns nicht geben.
Andererseits müssen die Taliban nun der in weiten Teilen skeptischen internationalen Gemeinschaft auch moderate Regierungsmitglieder vorstellen. «Die Taliban werden sich eher als die Aufseher der islamischen Lehre nach ihrer Auslegung sehen, nicht als diejenigen, die alle operativen Regierungsgeschäfte übernehmen wollen», sagt Thomas Ruttig vom internationalen Afghanistan Analysts Network (AAN). Dass sie allerdings mehr als ein «paar Feigenblätter» in die Regierung holen werden, also Frauen oder bisherige Gegner, daran habe er massive Zweifel.
Keine Pläne für Anerkennung
Nun sind die Taliban zwar wieder die uneingeschränkten Herrscher im Land, aber eigentlich müssten sie sich auch mit ehemaligen Feinden an einen Tisch im Präsidentenpalast setzen. Denn nur wenn die neue Kabuler Regierung integrativ ist, werden die westlichen Staaten zur Kooperation bereit sein. Man werde sich um eine Zusammenarbeit mit den Taliban bemühen, habe aber noch keine Pläne, die Regierung anzuerkennen, sagte der britische Aussenminister Dominic Raab am Donnerstag in Doha, eine Linie, die schon andere Aussenminister vor ihm vertreten hatten.
Die Islamisten haben sich in den vergangenen Wochen noch nicht als regierungsfähig erwiesen, sie agierten «unorganisiert», sagt Afghanistan-Experte Ruttig. Zwar haben sie die Beamten aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren, doch die meisten Regierungsbüros seien noch geschlossen, wie eine Bewohnerin der Provinz Herat berichtet. Aus Kabul erzählt ein Geschäftsmann per Textnachricht, dass sich selbst Taliban beschwerten, die aus den Provinzen in die Hauptstadt kämen: Es gebe bislang schlicht nichts zu verteilen, nur Mangel zu verwalten. «Eine Regierung ohne Kapital lässt sich nicht zum Laufen bringen», schrieb der Geschäftsmann, der aus Angst nicht namentlich genannt werden will.
Dabei drängt die Zeit, die Vereinten Nationen warnen vor einer Hungerkatastrophe, die Preise für Lebensmittel auf den Basaren haben sich zum Teil verdoppelt – und das Bargeld ist knapp. Aber es fehlen Fachleute, oder es werden die Löhne in den Ministerien noch nicht gezahlt. Aus der alten Regierung sind nicht nur der Präsident, sondern auch zahlreiche Ministerinnen und Minister ins Ausland geflüchtet. Noch aktiv ist hingegen der Chef des Gesundheitsressorts, Wahid Majrooh, der vor einem Kollaps des Systems warnt, wenn nicht bald wieder die internationale Hilfe fliesse.
Nach der Taliban-Übernahme Kabuls gerieten zunächst zwei sehr prominente politische Figuren der vergangenen 20 Jahre in den Fokus, die für eine Vermittlerrolle zwischen Taliban und Westen einerseits sowie Taliban und inneren Gegnern andererseits infrage gekommen wären: Ex-Präsident Hamid Karsai und Abdullah Abdullah aus der ehemaligen Nordallianz, der in den vergangenen Jahren auch zahlreiche hohe Regierungsämter innehatte. Doch wie eine gut informierte Quelle bestätigte, dürfen sich beide im Moment in Kabul nicht mehr frei bewegen.
Die Zeichen stehen weiter auf Krieg, nicht auf Einheitsregierung.
Karsai hätte als Brücke zur internationalen Gemeinschaft fungieren können, Abdullah als Bindeglied ins nördlich von Kabul gelegene Pandschir-Tal, in dem sich der letzte grosse militärische Widerstand gegen die Taliban formiert hat. Dieser wird angeführt von Ahmad Massoud, Sohn des von Al-Qaida-Terroristen ermordeten, legendären Erzfeindes der Taliban. Doch sowohl Taliban als auch Vertreter des Widerstands gaben bekannt, dass eine gross angelegte Offensive der Islamisten im Pandschir-Tal laufe. Die Zeichen stehen weiter auf Krieg, nicht auf Einheitsregierung.
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