Lügen bei «The Blind Side»?Die Story fürs Herz erhält Risse
Michael Oher war unfreiwilliger Filmstar und NFL-Profi, seine Geschichte ging um die Welt. Nun hat er aus heiterem Himmel seine Adoptiveltern verklagt: Sie hätten ihn belogen.
In seinem Fall kommt das Happy End am Anfang. Als Michael Oher weltweit berühmt wird, hat er gerade einmal die ersten Wochen als professioneller Footballspieler hinter sich. Im Spätherbst 2009 ist das, als «The Blind Side» in die Kinos kommt, ein Film, der sich des Lebens und der ungewöhnlichen Geschichte des jungen Mannes annimmt.
Oher wächst in zerrütteten Verhältnissen auf und verbringt seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Pflegefamilien. Kontakt zu seiner Mutter oder seinen vielen Geschwistern hat er nicht. Erst ein zufälliges Aufeinandertreffen mit der Familie Tuohy bringt Stabilität in sein Leben. Der schüchterne Oher zieht ins riesige Haus des wohlhabenden Ehepaars Leigh Anne und Sean Tuohy, wird intensiv gefördert, sodass er am Ende mit Bravour die Highschool abschliesst, und schliesslich zudem von der Familie adoptiert. Er setzt sich danach schulisch und sportlich auch an der Universität durch und unterschreibt im Frühling 2009 in der US-Profiliga NFL bei den Baltimore Ravens einen Millionenvertrag.
«The Blind Side» erscheint ein halbes Jahr später, kurz nach dem Start zur neuen NFL-Saison. Der Streifen ist ein Erfolg und findet auch im weniger footballaffinen Europa viele Fans. Sandra Bullock gewinnt den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Und Oher wird zum Symbol dafür, dass es jeder schaffen kann, wenn er nur hin und wieder etwas Hilfe erhält. 2013 gewinnt er mit den Ravens sogar die Superbowl.
Doch seiner Karriere selbst war das Happy End aus dem Film nicht vergönnt. 2016 steht Oher erneut im grossen Endspiel, ist diesmal mit den Carolina Panthers aber auf der Seite der Verlierer. 2016 erleidet er eine schwere Gehirnerschütterung, derentwegen er 2017 entlassen wird und seine Karriere beenden muss. Er versucht sich kurzzeitig als Geschäftsmann. Heute ist er 37, Neuigkeiten über ihn gibt es kaum noch.
Bis diese Woche. Am Montagabend berichtet das Onlineportal People.com, dass Oher seine Adoptivfamilie verklagt hat. Dem Medium liegen die entsprechenden Papiere vor. Grund der Klage: Oher soll mit seiner Unterschrift seinerzeit gar keiner Adoption zugestimmt haben, sondern einer Vormundschaft. Im Englischen «conservatorship» genannt. Das einstige Popsternchen Britney Spears befand sich zwischen 2008 und 2021 in einer solchen Vormundschaft (ihres Vaters James).
Vormundschaften wie diese werden in aller Regel für minderjährige, behinderte oder unzurechnungsfähige Personen beantragt. Doch Michael Oher war zu dieser Zeit bereits über 18 und weder körperlich noch geistig beeinträchtigt – obwohl er teilweise als begriffsstutzig dargestellt wird. Dies ist mit ein Grund, weshalb sich Oher nicht wirklich mit dem Film angefreundet hat.
Es geht um Millionen
«Michael hat den Tuohys vertraut und hätte alles unterschrieben, von dem sie wollten, dass er es unterschreibt», heisst es in der Klage. Erst im vergangenen Februar habe Oher herausgefunden, dass er 2004 gar keine Adoption, sondern bloss eine Vormundschaft unterzeichnet habe. Damit hätten Leigh Anne und Sean Tuohy «jede Macht in ihren Händen gehabt, zu handeln», wird geklagt. Es sei Oher damit ausserdem verboten gewesen, ohne deren Einverständnis Verträge einzugehen.
Die Konsequenzen sind vor allem finanzieller Natur. Denn laut Klageschrift wurde die Familie am Erlös des Blockbusters beteiligt: Das Ehepaar sowie dessen leibliche Kinder Collins und Sean Junior hätten je 225’000 Dollar sowie 2,5 Prozent der Filmeinnahmen erhalten. Michael dagegen sei leer ausgegangen, behauptet die Klage, das hätten die Eltern mit der Produktionsfirma 20th Century Fox vertraglich vereinbart. An der Kinokasse hat «The Blind Side» über 300 Millionen Dollar eingespielt.
Die beschuldigten Eltern reagieren konsterniert. «Es ist verstörend, dass jemand denkt, wir hätten uns finanziell an einem unserer Kinder bereichert», sagt Sean Tuohy der Zeitung «Daily Memphian». Sie seien nicht an den Filmeinnahmen beteiligt worden, hätten lediglich vom Buchautor, auf dessen 2006 erschienener Biografie der Film basiert, Geld erhalten, «exakt 14’000 Dollar, jeder von uns, auch Michael. Für den Film haben wir nie Geld angeboten bekommen und auch nie Geld verlangt.»
Dass Oher nicht einer Adoption, sondern einer Vormundschaft zugestimmt habe, räumt Tuohy ein, «allerdings kam ihm das zugute». Weil Oher damals schon über 18 war, war eine Adoption gar nicht mehr möglich. Um die strengen Regeln der US-Hochschulsportbehörde NCAA trotzdem erfüllen und dieselbe Universität besuchen zu können wie einst seine Adoptiveltern, musste er rechtlich zur Familie gehören. Denn die Tuohys waren Sponsoren der Uni. Mit einer Vormundschaft liess sich das Problem regeln – sagt Sean Tuohy.
Das traurige familieninterne Nachspiel einer Erfolgsstory erinnert an eine Passage im Film, die auch ein Wendepunkt hätte sein können. Im Laufe seiner Zeit an der Universität von Mississippi sieht sich die Familie dem Vorwurf der NCAA ausgesetzt, dass sie Oher nur deshalb ein Zuhause gegeben und Förderunterricht bezahlt habe, damit er später auch sicher für ihre bevorzugte Universitätsmannschaft spielt. Damals konnten sie es entkräften.
Und heute? Läuft es auf ein Gerichtsverfahren heraus? Das Zerwürfnis kommt für Aussenstehende jedenfalls überraschend. Schliesslich hatte Oher bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte, im Rahmen der Superbowl 50 im Februar 2016, gesagt, als er wieder einmal auf den Film angesprochen wurde: «Jeder hat eine Geschichte, meine wurde nun einmal erzählt. Es gibt Menschen, die haben schlimmere Geschichten als meine. Ich kann damit leben.»
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