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Leichenfunde in Kanada und in der Schweiz
Die Skelette von Realta

103 anonyme Gräber kamen auf dem Gelände der ehemaligen Anstalt Realta in Graubünden ans Tageslicht.
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Für Willi Wottreng war es ein Déjà-vu. Der Publizist und Historiker fühlte sich an die Skelette von Realta im Kanton Graubünden erinnert, als er von den neu entdeckten Gräbern auf dem Gelände kanadischer Kinderheime las. Vor zwei Jahren waren die Skelette im Domleschg auf dem Gelände der ehemaligen Zwangsarbeitsanstalt Realta freigelegt worden.

Die sterblichen Überreste von 103 Insassen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert weisen Spuren der Gewaltanwendung auf. «Es sind eindeutig Anzeichen institutioneller Gewalt», sagt Wottreng.

Zur «Besserung der Anstaltsgenossen»

In der Anstalt Realta in Cazis waren Heimatlose, Verarmte, psychisch Kranke, Alkoholiker, Sinti und Jenische eingesperrt. Laut der Bündner Armenordnung war der Zweck der Anstalt die «Besserung der Anstaltsgenossen» durch «Unterweisung religiöser Werte, Arbeitsgewöhnung sowie Ordnung und Reinlichkeit».

Mit anderen Worten: Das Ziel war, die randständigen Menschen den damals erwünschten gesellschaftlichen Normen zu unterwerfen, davon betroffen war aber nicht eine spezifische Ethnie wie im Falle Kanadas. Diese Art der Zwangsfürsorge war in der Schweiz bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus weit verbreitet.

Harter Alltag: Insassen der Anstalt Realta verrichten Zwangsarbeit auf dem Feld.

Für Willi Wottreng ist klar: in der Schweiz herrschte gegenüber Menschen, die von der Norm abwichen, eine ähnliche Geisteshaltung wie in Kanada gegenüber den Ureinwohnern. Ab 1874 waren in dem nordamerikanischen Land rund 150’000 indigene Kinder von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt und in kirchliche Heime gesteckt worden. Laut dem Luzerner Historiker Manuel Menrath waren auch Schweizer Mönche an den Zwangsmissionierungen beteiligt.

Die indigenen Kinder sollten in den kirchlichen Heimen zur Anpassung an die weisse Mehrheitsgesellschaft gezwungen werden. Viele von ihnen wurden in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht. Historiker schätzen, dass 6000 Kinder in den überwiegend von katholischen Orden geführten Internaten wegen der prekären Lebensbedingungen starben.

Der Kantonsarchäologe widerspricht

Anders als Wottreng sieht der Bündner Chefarchäologe Thomas Reitmaier allerdings nur einen gemeinsamen Nenner zwischen den freigelegten Gräbern in Cazis und denjenigen in Kanada: Es ging an beiden Orten um Menschen, die gemäss einer gesellschaftlichen Norm oder einer etwa auch religiösen Weltanschauung hätten «korrigiert» werden sollen.

Reitmaier hat mit einem Team die Ausgrabung selber vorgenommen, hat sie wissenschaftlich ausgewertet und darüber publiziert.

Bei den Ausgrabungen stellten die Archäologen extrem viele Knochenbrüche fest, die auf Gewaltanwendung hinweisen.

«In Cazis wurden die Leichen nicht verscharrt, um ein Geschehen zu vertuschen», sagt Reitmaier. «Im Gegenteil: Die Behörden haben hier für anständige Begräbnisse gesorgt und einen Erinnerungsort geschaffen.» Man habe gegenüber den in der Anstalt verstorbenen Menschen «wohl eine gewisse Empathie» gezeigt.

«Es liegen Welten zwischen den Kindergräbern in Kanada und dem Friedhof der Anstalt Realta.»

Thomas Reitmaier, Kantonsarchäologe in Graubünden

Die Grabstätte in Cazis ist zudem kein Zufallsfund. Ihre Lage war immer bekannt. Die Ausgrabung erfolgte gezielt, als das Gelände für den Neubau der Justizvollzugsanstalt Cazis-Tignez bereitgestellt wurde. Es gab auch Sterberegister, sodass die Archäologen ziemlich genau nachvollziehen konnten, wer hier begraben lag.

Kurz: «Es liegen Welten zwischen den Kindergräbern in Kanada und dem Friedhof der Anstalt Realta», sagt Reitmaier.

«Extrem hohe Raten» an Knochenbrüchen

Allerdings hatten Reitmaier und sein Team bei der Ausgrabung im Vergleich mit Daten aus anderen zeitgenössischen Ausgrabungen «extrem hohe» Raten von Knochenbrüchen festgestellt, insbesondere der Rippen. «Ein grosser Teil der Frakturen war unvollständig verheilt und entstand höchstwahrscheinlich während der Inhaftierung aufgrund von interpersoneller Gewalt», heisst es im Ausgrabungsbericht.

Ob es sich dabei um Gewalt des Anstaltspersonals gegen die Insassen gehandelt hat, ist laut Reitmaier unklar. Angesichts der harten Zwangsarbeit, des gemeinsamen Lebens auf engstem Raum in der überfüllten Anstalt und der geringen Zahl von Aufsehern seien Unfälle ebenso plausibel. Zudem waren viele Insassen schon vorher krank, was ebenfalls zu hohen Zahl von Frakturen hätte führen können.

Der Kanton Graubünden hat eben erst die Geschichte seiner Psychiatrie und seiner dazugehörenden Anstalten aufgearbeitet. Die Studie kommt zum Schluss, dass in Realta «körperliche Gewalt zwar vom Dienstpersonal als Teil einer repressiven Erziehung ausgegangen sein» dürfte. Aber die Verletzungen könnten «auch das Resultat einer Auseinandersetzung zwischen den Insassen selbst gewesen sein».

Als Geschäftsführer der Radgenossenschaft vertritt Willi Wottreng die Interessen von Jenischen und Sinti.

Willi Wottreng ist von der Unfall- und der Streitthese als Grund für die Verletzungen nicht so leicht zu überzeugen. Er verfolgt die Sache als Geschäftsführer der Radgenossenschaft. Das ist die Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz, sie ist mit diskriminierte Minderheiten in ganz Europa vernetzt.

Jenische und Sinti waren den Behörden als Fahrende und «Vaganten» lange ein Dorn im Auge, landeten deshalb häufig in Anstalten wie Realta und erfuhren dort besonders viel Gewalt.

«Für mich bleibt es dabei: Die Funde in Cazis sind ein Zeugnis struktureller Gewalt gegen Randständige.»

Willi Wottreng, Publizist und Geschäftsführer der Radgenossenschaft

Wottreng verweist auf die von den Archäologen erhärtete Tatsache, dass es bei den Toten von Realta extrem viele Verletzungen an den Rippen gab. «Das weist klar darauf hin, dass die Leute am Brustkorb brutal umfasst und gepackt wurden», sagt Wottreng. Bei Unfällen oder Streit unter Insassen wären mehr Arm- oder Schlüsselbeinbrüche zu erwarten gewesen.

«Für mich bleibt es dabei», sagt Wottreng, «die Funde in Cazis sind ein Zeugnis struktureller Gewalt gegen Randständige: Warum haben denn die Grabstätten keine Namensbezeichnung?»