Russischer Raketenhagel auf die UkraineDie Sirenen heulten stundenlang, im ganzen Land
Der jüngste Angriff Moskaus auf die Ukraine hatte eine ungewohnte Intensität, die Flugabwehr konnte deshalb nicht alle Geschosse abfangen. Ziel war vor allem die Elektrizitätsinfrastruktur.
Es ist ein Angriff, wie es ihn in diesem Ausmass länger nicht gegeben hat: 25-mal hat Russland die Ukraine seit Oktober vergangenen Jahres mit Raketen beschossen, so viele wie in der vergangenen Nacht waren es aber selten in diesem Krieg. 81 Raketen und 8 Kamikazedrohnen setzten die russischen Streitkräfte ein. 34 Raketen und 4 Drohnen konnten abgefangen werden, bevor sie ihr Ziel trafen. Nach Angaben ukrainischer Behörden kamen mindestens sechs Menschen in der Nähe von Lwiw ums Leben, als eine Rakete ein Wohngebiet traf.
Der Luftalarm in vielen Städten des Landes begann um Mitternacht, stundenlang heulten die Sirenen. In der Hauptstadt Kiew wurde der Alarm erst nach sieben Stunden beendet. Betroffen von dem Beschuss waren alle Regionen des Landes, neben Kiew beispielsweise die Schwarzmeer-Hafenstadt Odessa, die zweitgrösste ukrainische Stadt Charkiw, aber auch Schitomir, Winnizja und Riwne im Westen oder Dnipro und Poltawa im Zentrum des Landes.
Ziel der Angriffe war vielerorts wieder die Elektroinfrastruktur der Ukraine, in einigen Regionen fielen Strom und Heizung aus. In der Folge der Angriffe wurde auch das Atomkraftwerk Saporischschja von der regulären Stromversorgung abgeschnitten. Über Dieselgeneratoren wurde eine Notversorgung der Anlage in der Stadt Enerhodar sichergestellt. Der Betreiber teilte mit, der Kraftstoff reiche für zehn Tage.
Moskau setzte bei dem Angriff Shahed-Drohnen und Raketen jedes verfügbaren Typs ein, darunter auch solche, die von der ukrainischen Flugabwehr nicht abgefangen werden können: moderne Marschflugkörper vom Typ KH-22 beispielsweise und sechs Kinschal-Hyperschallraketen. Die russischen Streitkräfte hatten diese Rakete bislang bei einem einzelnen Angriff noch nicht in dieser Grössenordnung verwendet, sie verfügen nur über eine begrenzte Anzahl. Nach russischen Angaben kann sie die zehnfache Schallgeschwindigkeit erreichen und bleibt trotzdem manövrierfähig.
Die russischen Verbände kommen kaum vorwärts – erleiden aber hohe Verluste.
Auch wegen des Einsatzes dieser Waffe war der Anteil der Flugkörper, die abgefangen werden konnten, dieses Mal relativ gering. Waren es in der Vergangenheit oft 50 Prozent, manchmal sogar 75 Prozent und mehr, lag die Quote diesmal bei nur gut 30 Prozent. Ausser an den verwendeten Raketen liegt das vor allem an einer Änderung der russischen Taktik. Momentan sind die Angriffe seltener, als sie es von Oktober bis Januar waren, sie werden aber wieder mit einer grösseren Zahl von Flugkörpern durchgeführt. Im Februar waren es gut 70 Stück, jetzt, einen Monat später, fast 90.
Damit war das ukrainische Flugabwehrsystem in einigen Regionen überfordert. Nicht allerdings in der Hauptstadt. Die Militärverwaltung in Kiew erklärte, dass bis auf eine Kinschal-Rakete alle Kamikazedrohnen und Raketen, die Kiew treffen sollten, abgefangen werden konnten.
In der Vergangenheit konnte die Ukraine die durch Raketeneinschläge verursachten Schäden an der Infrastruktur meist schnell beheben. Die Auswirkungen waren deshalb während des Winters geringer als befürchtet. Jetzt, da die Temperaturen bald wieder steigen, erscheint die russische Raketentaktik noch weniger zielführend: Sie hat militärisch kaum einen Nutzen, sondern zielt darauf, die ukrainische Bevölkerung zu zermürben.
Damit passt sie in eine Reihe von zweifelhaften militärischen Entscheidungen, die auf der Seite Russlands gerade getroffen werden. Vor nunmehr gut fünf Wochen begannen die russischen Streitkräfte an der Front im Osten der Ukraine eine Offensive und konnten dort auch die Initiative zurückerlangen. Trotzdem blieb die Schlagkraft der Angriffe bislang hinter dem zurück, was von den meisten Beobachtern erwartet worden war. Die russischen Verbände kommen kaum vorwärts – erleiden aber hohe Verluste.
Braucht Russland neue Mobilmachung?
So konnten im seit neun Monaten umkämpften Bachmut durch den Einsatz von Elitetruppen und erfahrenen Söldnern der Gruppe Wagner zwar zuletzt Geländegewinne erreicht werden, eingenommen hat Russland die Stadt im Donbass aber noch nicht. Und die russischen Verluste sind horrend. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat deshalb noch keinen Rückzug befohlen. Er will dem Gegner in Bachmut so viele Verluste wie möglich zufügen, seine Kampfkraft schwächen und dann eine Gegenoffensive starten.
An anderen Stellen der Front hat Moskau vernichtende Niederlagen erlitten. In Wuhledar, südlich von Bachmut, wurden russische Panzerverbände beispielsweise wiederholt in einen Hinterhalt gelockt. Mehr als 130 russische Panzer haben die ukrainischen Streitkräfte dort zerstört. In Kiew sprechen Beamte von der grössten Panzerschlacht des Krieges. Zumindest dort hat die russische Offensive ihren Höhepunkt wohl bereits überschritten, an anderen Stellen der Front dürfte es bald so weit sein. Eine neue ist dann nach Einschätzung von Beobachtern ohne eine weitere Mobilmachungswelle in Russland kaum möglich.
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