Interview mit Seuchenhistorikerin«Die Seiten waren voll mit Mikroben-Witzen»
Wissenschaftseuphorie und -skepsis: Martina King sieht Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und einem Mikroben-Hype, der die Gesellschaft vor über hundert Jahren beschäftigte.
Corona ist aus den grossen Schlagzeilen verschwunden und scheint vergessen – nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs. Wiederholt sich das Gleiche wie bei der letzten grossen Pandemie, der Spanischen Grippe?
Es ist sicher ein grosses Bedürfnis einer Bevölkerung, die von einer Pandemie durchgeschüttelt wurde, irgendwann zu sagen, jetzt ist fertig. Auch die Spanische Grippe wurde vergessen, während sie noch lief. Damals war es der Erste Weltkrieg, der alles überdeckte.
Wie heftig die Pandemie damals war, hat man erst in den letzten zwanzig Jahren wiederentdeckt.
Historiker sprechen deshalb auch von der «vergessenen Pandemie». Der Grund war aber eher eine Hierarchie des Sterbens, die es damals gab. Man starb auf dem Schlachtfeld fürs Vaterland, nicht an einer Grippe. Bei Corona ist es aber anders. Hier sind wir paradoxerweise bereits zu einem Zeitpunkt im Vergessensmodus, in dem die Fallzahlen so hoch sind wie noch nie und die wichtige Frage der Langzeitfolgen noch nicht geklärt ist. Auch wenn die meisten Massnahmen aufgehoben worden sind, ist die Pandemie noch nicht vorbei.
Sie haben die kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Entdeckung der Mikroben im deutschsprachigen Raum erforscht. Sehen Sie Parallelen zur Corona-Pandemie?
Ich bin jeweils zurückhaltend bei historischen Vergleichen. Die Entdeckung der Bakterien und Einzeller in den 1880er-Jahren war ein riesiges Medienphänomen, ein regelrechter «Mikroben-Hype», der sich auf die gesamte Kultur und Gesellschaft ausdehnte. Das ist schon einzigartig. Aber natürlich gibt es Ausläufer bis in die Gegenwart, vor allem die verwendeten Metaphern und die Vermenschlichung der unsichtbaren Mikroorganismen.
Zum Beispiel?
Auffällig ist die militarisierte Sprache. Man muss «kleine Feinde» oder «unsichtbare Gegner» sagen, ohne das scheint es auch heute nicht zu gehen. Solche Wendungen wurden in den 1880er-Jahren gebräuchlich, als Robert Koch in Deutschland als Erster spezifische Mikroben als Krankheitserreger identifizierte. Es gibt aber auch die andere Seite, die ästhetische Dimension der unsichtbaren Welt, das Schöne. Bei der Corona-Pandemie war das vor allem am Anfang bei den Bildern des Virus zu beobachten, den dekorativen roten Kugeln mit den Spikes. Später setzten der Überdruss, die Spaltung und die gesellschaftliche Verrohung ein. Das verdrängte die ästhetischen Aspekte.
Wenn Sie von Mikroben-Hype sprechen, wie muss man sich diesen vorstellen?
Es herrschte eine Wissenschaftseuphorie, wie man sie sich heute nicht vorstellen kann. Die Entdeckung der Mikroorganismen elektrisierte alle. Die Massenmedien feierten das mit einer tollen Mischung aus Grusel und Faszination: «Jetzt wissen wir, wieso die jungen Mädchen an Tuberkulose dahinsiechen und grosse Cholera-Wellen die Städte verwüsten. Es sind die kleinen Feinde, das hat der grosse Bakteriologe Robert Koch herausgefunden.»
Koch wurde zum Nationalhelden.
Er wurde für seine Entdeckung sogar mit einem Kriegsorden ausgezeichnet, was die Nähe zwischen deutscher Spitzenforschung und Militarismus zeigt. An bestimmten Tagen finden Sie fast keine Tageszeitung ohne Robert-Koch-Hype und Mikroben-Gaudi. In Satirezeitungen wie «Kladderadatsch» oder «Simplicissimus» sind die Seiten voll mit Bakteriologen- und Mikroben-Witzen.
«Was der Teufel im ‹Doktor Faustus› von Thomas Mann da erzählt, ist so etwas wie die Summe des Bazillen-Humors um 1900.»
Mikroben-Witze?
Im «Kladderadatsch» fantasiert beispielsweise ein Autor über einen erfundenen Doktor Reinsch, der Geldbazillen entdeckt habe, mit denen man auch Banknoten und Münzen herstellen könne. Oder es wird über Kegelbazillen geschrieben, die «plötzliches Umfallen» bewirken würden. Es sind zum Teil urkomische Witze, die übrigens auch Thomas Mann in der berühmten Teufelsszene im «Doktor Faustus» verarbeitet hat.
Thomas Mann hat beim Mikroben-Hype mitgemacht?
Was der Teufel da erzählt, ist so etwas wie die Summe des Bazillen-Humors um 1900. Die lieben kleinen Männchen, die das Oberstübchen des Tonsetzers besuchen und es sich dort gemütlich machen, nachdem sie auf dem Wasserweg im Liquor gereist sind: Mann spielt ganz bewusst mit den humoristischen Beständen jener Epoche, aus der auch die ersten Pläne zum «Faustus»-Roman stammen. Von der Forschung ist das bis heute überlesen worden.
Die Mikroben waren omnipräsent.
So ist es. Es gab in dieser Zeit auch viele komische Mikroben-Plakate und -Abbildungen, auf denen lustige kleine Männlein mit Spazierstock Dinge sagten wie: «Koch hat uns eine schöne Suppe eingebrockt, davon ist uns ganz schlecht geworden.» Aber auch die Wirtschaft wurde vom Hype erfasst und inspirierte findige Industrielle zu neuen Produkten. Zum Beispiel Karl August Lingner, der damals Odol erfand, ein simples Pfefferminzwasser, das angeblich den Mund desinfizierte. Lingner lancierte sein Produkt mit Annoncen, die auf unzähligen Plakaten und in Zeitschriften abgedruckt wurden. Vom bedeutenden Komponisten Giacomo Puccini liess er sogar eine Odol-Ode komponieren.
Was wurde sonst noch verkauft?
Wenn Sie die damalige Presse durchgehen, finden Sie seitenweise Bakterienprodukte. Staubsauger, um Bakterien wegzusaugen. Oder die Wasserfilter des Ingenieurs Wilhelm Berkefeld, die in jeder Zeitung als Schutz vor Cholera- und Tuberkulose-Bazillen beworben werden.
Die Entdeckung der Mikroben war bahnbrechend. Auch bei Corona kann man von der raschen Erbgut-Entschlüsselung über die Nachweistests bis zur Impfung von einem Siegeszug der Wissenschaft sprechen. Trotzdem scheint Wissenschaftsskepsis verbreiteter denn je.
Das ist tatsächlich so. Die Wissenschaft hat heute viele Gegner, trotz ihrer grossen Erfolge, insbesondere der mRNA-Impfung, zweifellos eine der grössten wissenschaftlichen Leistungen dieses Jahrhunderts. So anders als vor hundert Jahren ist die Stimmung allerdings gar nicht. Auch der Mikroben-Hype hatte eine Kehrseite. Viele fanden damals, dass dies alles nur Erfindungen seien, was die Bakteriologen da erzählen würden. Unter den Kritikern befanden sich bedeutendste Intellektuelle dieser Zeit. Arthur Schnitzler, August Strindberg, Karl Kraus oder Leo Tolstoi – sie alle verarbeiteten das Thema in ihren Werken zutiefst skeptisch.
Gab es die Spaltung auch bei den Impfungen?
Ja, aber das begann bereits früher. Bei der Pockenimpfung, der ersten Impfung überhaupt, kam es sogar zu einem Medien-Hype, noch bevor es Massenmedien gab. Ich bin völlig unerwartet darauf gestossen, als ich Quellen von damals studiert habe. Die Impfung wurde ab 1800 in allen europäischen Ländern eingeführt, als die Bevölkerung mehrheitlich nicht lesen konnte. Man musste die Impfung also auf anderem Weg als heute unter die Leute bringen.
«Es gab Impf-Dramen, Impf-Oden, Impf-Marionettenspiele. Das nahm zum Teil absurde Ausmasse an.»
Wie?
Mit Predigten von den Kanzeln, mit Flugblättern, mit Medaillen für die geimpften Kinder und vor allem mit Dichtung. Es gab Impf-Dramen, Impf-Oden, Impf-Marionettenspiele. Es finden sich auch Abbildungen und Gemälde, die den Entdecker der Impfung, den Briten Edward Jenner, stilisiert in der Konstellation der Heiligen Familie beim Impfen zeigten. Das nahm zum Teil absurde Ausmasse an.
Trotzdem war die Impfskepsis verbreitet?
Massiv. Die Pockenimpfung wurde vielerorts mit Zwang eingeführt. Und zu Beginn bestand der Impfstoff aus dem Sekret von Kuhpockenpusteln, welches dem «reinen Kind» gespritzt wurde. Das war für viele inakzeptabel – obwohl es tausendfach empirisch bewiesen war, dass es vor der Erkrankung schützte. Man muss sich bewusst sein: Pocken sind nicht Corona. Sie sehen, wie Ihr Kind mit Pusteln zuschwillt und Blut aus Augen und Ohren austritt. Die Krankheit ist ein Albtraum, wie ihn kein Horrorfilm erfinden kann.
War die Skepsis auch in der Schweiz verbreitet?
1882, als man überall in Europa sinnvollerweise ein Impfobligatorium kannte, wurde hierzulande ein solches in einem Referendum abgelehnt. Mit dem Ergebnis, dass die Schweiz 1924 als letztes europäisches Land nochmals eine Pockenepidemie mit vielen Toten durchmachte.
Weshalb lehnte man das Obligatorium ab?
Die Freiheit war der Bevölkerung offenbar wichtiger als die Gesundheit. Die Schweiz hat sich dafür eine Pockenepidemie geleistet. Es war nämlich längst klar, dass die Impfung schützt. Als eines der letzten europäischen Länder führte Preussen 1874 ein Impfobligatorium ein und beendete damit eine laufende Epidemie. Die Schweiz sagte Nein, obwohl man diesen Erfolg auch hier sehen konnte und man längst nicht mehr Kuhsekret für die Impfung verwandte.
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