Kommentar zum KrisenmanagementDie Schweizer Politik verschläft die zweite Welle
Der Bundesrat hat der Bevölkerung suggeriert, die Gefahr sei vorüber. Und viele Kantonsregierungen haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Die zweite Welle der Corona-Pandemie ist da. 137 neue Infizierte meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Mittwoch – der höchste Wert seit über zwei Monaten. Und bislang macht die Schweiz in dieser zweiten Welle keine gute Figur.
Dabei standen wir vor einem Monat so gut da! Kaum ein anderes Land hat die Infektionszahlen so rasch und stark drücken können. Mitschuldig am raschen Wiederaufflammen der Epidemie sind Menschen, die sich unverantwortlich und dumm verhalten. Etwa indem sie an einer nächtelangen Techno-Party in Bern teilnehmen. Oder indem sie in Zürcher Clubs Jux-E-Mail-Adressen angeben.
Befeuert hat solchen Leichtsinn jedoch der Bundesrat, indem er am 19. Juni fast alle Corona-Regeln aufgehoben hat. Kaum ein anderes Land hat sein Dispositiv gegen das Virus radikaler heruntergefahren; das zeigt eine eindrückliche Übersicht der Universität Oxford. Zwar predigten die Bundesräte gleichzeitig, die Gefahr durch das Virus sei nicht gebannt. Doch es ist wie bei der Kindererziehung: Die Taten der Regierung wirkten stärker als ihre Worte. Bei Teilen der Bevölkerung kam nur eine Botschaft an: Die Entbehrungen sind zu Ende, die Pandemie ist vorbei.
Die Zeit nicht genutzt
Seit dem 19. Juni liegt die Hauptverantwortung bei der Seuchenbekämpfung wieder bei den Kantonen. Das ist auch aus heutiger Sicht noch richtig. Denn die regionalen Unterschiede beim Verlauf der Epidemie sind so gross, dass regionale Gegenmassnahmen angezeigt sind. Während in Zürich die Fallzahlen schon wieder beängstigend hoch sind, gibt es in Basel seit Tagen keine Neuinfektion.
Doch mindestens ein Teil der Kantone wirkt schon jetzt überfordert. Die Zürcher Kantonsärztin muss zugeben, dass ihre Leute beim Contact-Tracing bereits jetzt am Anschlag sind. Wen wunderts, wenn ein Kanton mit 1,5 Millionen Einwohnern dafür bloss 20 Leute im Einsatz hat? Der Kanton Graubünden erklärte im «SonntagsBlick» sogar, seine Vorbereitungen für eine zweite Welle seien erst Ende August (sic!) abgeschlossen. Das ist Behördenversagen.
Drei Monate lang hatten die Kantone Zeit, sich für eine zweite Welle zu wappnen. Das Epidemiengesetz gibt ihnen dafür starke Instrumente in die Hand. Sie können Veranstaltungen verbieten, Firmen schliessen oder Betriebsvorschriften erlassen. Doch derzeit bekommt man den Eindruck, dass die Kantone entweder ihre Gnadenfrist nicht genutzt haben oder sich davor scheuen, ihre Kompetenzen anzuwenden.
Anderthalb Monate in einer Pandemie, das sind Jahre in normalen Zeiten.
Ausdruck davon ist auch das wochenlange Hin und Her um eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Es ist schwer verständlich, dass der Bundesrat sie nicht spätestens am 19. Juni angeordnet hat. Ein Maskenmeer in den Zügen wäre vielleicht jenes Signal gewesen, das viele Menschen vor zu viel Sorglosigkeit bewahrt hätte.
Doch auch die Kantone hätten die Maskenpflicht längst einführen können, wenigstens in Trams und Bussen. Stattdessen rannten sie zu Bundesrat Alain Berset mit dem Argument, es brauche bei den Masken eine nationale Koordination. Dann koordiniert euch doch, liebe Kantonsregierungen! Wofür habt ihr die Konferenz der Gesundheitsdirektoren? Doch diese hat letztmals am 14. Mai getagt. Vor anderthalb Monaten. Anderthalb Monate in einer Pandemie, das sind Jahre in normalen Zeiten.
Bis jetzt war das Bundesparlament in dieser Pandemie politisch der Verlierer, weil es beim Krisenmanagement bis heute nicht richtig Tritt gefunden hat. Wenn die Kantone nicht eine steile Lernkurve hinlegen, werden sie der zweite grosse Verlierer werden.
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