Wandern im BleniotalDie schönste Badewanne der Schweiz
Ein neu angelegter Pfad führt vom Tessiner Bergdorf Leontica hinauf zu einer mit eiskaltem Bergbachwasser gefüllten Felswanne, die durch einen Roman Bekanntheit erlangt hat.
Felice steigt noch vor Tagesanbruch von seinem Haus im Tessiner Dorf Leontica eine knappe Stunde den Berg hoch zu einer Gumpe, einer Felswanne, wo er sich ein Bad gönnt. Das Besondere daran: Der Mann ist 90 Jahre alt. Und er macht das jeden Tag. Im Sommer wie im Winter.
Felice ist eine Romanfigur. Erdacht vom Tessiner Autor Fabio Andina für sein Buch «La pozza del Felice» («Tage mit Felice», Rotpunktverlag). Ein kurzer Roman über das einfache, entschleunigte Leben in einem Bergdorf im Bleniotal.
Das 2018 auf Italienisch erschienene und mittlerweile ins Deutsche und ins Französische übersetzte Buch wurde zu einem kleinen, feinen Bestseller. Und nachdem bekannt wurde, dass die Romanfigur des Felice auf einem kauzigen Alten beruht, der zu Lebzeiten tatsächlich täglich in einem Bergbachtümpel gebadet hatte, pilgerten viele Leserinnen und Leser nach Leontica, um ebendiese versteckt gelegene «pozza» zu suchen.
Die Gunst der Stunde genutzt
Es waren so viele, dass die Gemeindeverantwortlichen auf die Idee kamen, die Gunst der Stunde zu nutzen und dem verschlafenen Dorf in der Region Alto Ticino etwas neues Leben einzuhauchen: Sie realisierten auf diesen Sommer hin zusammen mit dem Autor den «Sentiero del Felice», einen Pfad, auf dem man auf den Spuren des 90-Jährigen herumwandern kann.
Und da stehen wir nun gleich neben der Haltestelle des Busses, der vom Tal hinaufführt. Linkerhand die Dorfkirche. Auf der anderen Strassenseite die Osteria Centrale (dauerhaft geschlossen) und der Dorfladen (ebenfalls geschlossen).
Es ist nicht viel los in Leontica, diesem auf knapp 900 Meter oberhalb von Acquarossa gelegenen Dorf im mittleren Bleniotal. Im Winter mag es hier dank der Sesselbahn, die ins Skigebiet Nara hinaufführt, etwas lebhafter sein. Aber an diesem Frühherbsttag ist alles ruhig. Zu hören ist von einer Bergwiese etwas weiter oben einzig das Geknatter eines benzinbetriebenen Handmähers.
Die Wanderung beginnt gleich vis-à-vis der Kirche beim «Sentiero del Felice»-Wegweiser samt grosser Karte. Eigentlich handelt es sich um mehrere «sentieri», die zu verschiedenen Orten führen, die in Andinas Roman eine Rolle spielen. Wir entscheiden uns für den Weg, der nicht direkt zur «pozza», sondern zuerst durchs Dorf und an Felices Haus vorbeiführt.
Dieses sieht ziemlich genau so aus wie im Roman beschrieben: ein altes Tessiner Haus mit Steindach und einer etwas ramponierten Fassade, von der die blassrosa Farbe langsam abblättert. Davor ein üppig bewachsener Blumen- und Gemüsegarten. Fehlt eigentlich nur Felice, wie er neben der Tür auf der Steinbank sitzt oder sich im Garten ein paar Zucchetti holt, um sie bei einer Nachbarin gegen etwas Käse einzutauschen.
Der Weg führt zwischen anderen alten Häusern durch zum oberen Dorfende und ist zunächst mal eine leise Enttäuschung. Der «sentiero» ist zu Beginn kein Pfad, sondern ein Asphaltsträsschen, das sich sanft den Berg hochschlängelt. Zwar praktisch verkehrsfrei, aber doch etwas monoton. Dafür kann man beim Wandern unbesorgt die Aussicht geniessen: hinunter auf Dorf und Kirche, hinüber auf die andere Talseite und den mächtigen Simano mit seiner wolkenverhangenen Spitze, das Tal hinauf Richtung Lukmanierpass.
Wir passieren den Mäher, den wir schon im Dorf gehört hatten, und stehen auf einmal vor einer Abzweigung: Hier endlich wird der Weg tatsächlich zum Pfad. Über Steinstufen und Wurzelstöcke geht es nun durch einen Kiefernwald und über Bergwiesen steil den Berg hoch.
Chapeau, denkt man nach ein paar Minuten, Felice muss ein ziemlich rüstiger Rentner gewesen sein, wenn er hier jeden Tag hochgewandert ist. Das müssen sich auch die Macher des «sentiero» gesagt haben – und haben in regelmässigen Abständen Ruhebänke installiert.
Vorbei geht es an zwei, drei zu Feriendomizilen umgebauten Rustici. Von weitem hört man das Rauschen eines Bergbachs. Das muss der Luinascio sein, an dem sich gemäss der Karte unten bei der Kirche Felices «pozza» befindet.
Und tatsächlich, ein paar Minuten später steht man unvermittelt am Ziel. Ein kleines Spektakel. Das Wasser des Luinascio ergiesst sich hier 40, 50 Meter über eine nackte Felsflanke in eine mit grossen Steinbrocken künstlich aufgestaute Wanne, bevor es darunter fast senkrecht in die Tiefe stürzt. Hier also hat sich Felice jeden Morgen ausgezogen und «nackt wie ein Wurm» ins Wasser gesetzt.
Wir tun es ihm gleich. Das ist, zumindest werktags, wenn nur wenige Wanderer diesen verborgenen Ort aufsuchen, kein Problem. Zumal man es im atemberaubend kalten Wasser ohnehin nicht länger als ein, zwei Minuten aushält. Nach dem Bad lassen wir uns auf einem der grossen Steine mit schönem Blick auf die Tessiner Bergwelt von Sonne und Wind trocknen.
Für den Rückweg wählen wir eine direktere, steilere Route, die tatsächlich fast durchwegs ein «sentiero» ist, stehen eine knappe Stunde später wieder an der Haltestelle und warten auf den Bus zurück ins Tal. Schade, sind die Osteria und der Laden geschlossen. Vielleicht trägt ja der «Sentiero del Felice» dazu bei, dass sie bald wieder öffnen. Pläne dazu, ist auf einem Aushang im Fenster des leer stehenden Gasthauses zu lesen, sind jedenfalls vorhanden.
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