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Ukraine-Krieg und die Schweiz
«Die Sanktionen sind auch ein Bekenntnis zur EU»

«Die Friedenspolitik gefährdet ein Mann, und der heisst Putin», sagt Historiker Thomas Maissen.
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Der Bundesrat hat am 28. Februar nach anfänglichem Zögern beschlossen, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschliessen. Damit hat er innenpolitisch für viel Wirbel gesorgt: Politiker aller Parteien fordern eine Debatte, wie dieser Entscheid die Neutralitätspolitik der Schweiz beeinflussen könnte und ob es eine Justierung brauche. Besonders hart mit dem Bundesrat geht die SVP und an vorderster Front ihr Doyen, Alt-Bundesrat Christoph Blocher, ins Gericht: Die Schweiz verspiele ihre Guten Dienste als neutraler Staat, und wenn sie Wirtschaftssanktionen ergreife, beteilige sie sich an einem Krieg. Dem Bundesrat fehle die Kraft, sich neutral zu verhalten, sagte er in der «Handelszeitung».

Wie ordnet der renommierte Historiker Thomas Maissen die «neue» Neutralitätspolitik ein, und welche Rolle soll die Schweiz in Staatengemeinschaften wie der UNO einnehmen?

Wie beurteilen Sie die harsche Kritik, insbesondere der SVP, an den von der Schweiz nachvollzogenen EU-Sanktionen?

Die SVP versteht die Neutralitätspolitik als Mittel einer nationalistischen Interessenpolitik: bedenkenlose wirtschaftliche Kooperation auch mit Unrechtsregimes, aber keine Übernahme von internationaler politischer Verantwortung. Klar, dass viele Rechtspolitiker es jetzt nicht gerne sehen, wenn die Schweiz die Solidarität mit Europa und der attackierten Ukraine höher gewichtet als kurzfristige ökonomische Interessen. Sie sollten stattdessen endlich eingestehen, dass die Politik des von ihnen bewunderten starken Mannes Putin innenpolitisch in die Diktatur führt und aussenpolitisch in den Krieg.

Aber die schweizerische Friedenspolitik könnte durch die Übernahme der EU-Sanktionen gefährdet werden?

Die Friedenspolitik gefährdet ein Mann, und der heisst Putin.

Überschätzt die Schweiz ihre Rolle bei der Friedensvermittlung?

Die Schweiz vermittelt kaum selbst, sondern bietet Rahmenbedingungen an, unter denen über Frieden gesprochen werden kann. Was spricht etwa dagegen, dass sich Putin und Biden in Genf treffen? Das hängt nicht von der praktizierten Neutralitätspolitik ab. Mit dem Standort der UNO und des IKRK in Genf besteht durchaus Grund für ein bescheidenes Selbstbewusstsein, bei der Beibehaltung der Friedensordnung einen gewissen Beitrag leisten zu können.

Die Schweiz hat lange gezögert, die EU-Sanktionen zu übernehmen. Welche Motivation vermuten Sie dahinter?

Die Hintergedanken waren sicher stark ökonomisch geprägt. Die EU-Sanktionen zu unterstützen, bedeutet für die Schweiz, Geschäfte mit Russland abzubrechen, die viel Gewinn abwarfen. Eher vorgeschoben scheinen mir Bedenken, damit könnte die Vermittlerrolle als neutraler Staat geschmälert werden. Allerdings habe ich Verständnis für diese Bedenkzeit, bedeuten die nun beschlossenen Sanktionen doch einen Bruch mit der bisherigen Neutralitätspolitik.

«Damit bekennt sich die Schweiz implizit zu einer Wertegemeinschaft und einem Wirtschaftsraum namens EU.»

Was für einen Bruch?

Das Embargogesetz von 2002 sieht ausdrücklich vor, dass Sanktionen der UNO, der OSZE oder der «wichtigsten Handelspartner der Schweiz» übernommen werden können, um Völkerrecht und Menschenrechte zu schützen. Schon seit 1994 war die Schweiz Teil der «Partnerschaft für den Frieden», welche die Angehörigen der Nato und des früheren Ostblocks umfasst, auch Russland und die Ukraine. Seit den 90er-Jahren übernahm die Schweiz Sanktionen, die von der UNO verhängt wurden. Im Kosovokonflikt 1998/99 waren es dagegen Sanktionen der EU gegen Serbien. Sie richteten sich offiziell gegen die «ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien». Das deutet an, dass die Schweiz die EU gleichsam anstelle der UNO auf einer friedensstiftenden und humanitären Mission in einem Land sah, das durch Bürgerkrieg geschwächt und zerfallen war.

Und was ist der Unterschied zu den jetzt beschlossenen Sanktionen?

Jetzt übernimmt die Schweiz EU-Sanktionen, die sich in einem zwischenstaatlichen Krieg gegen ein dauerndes Mitglied im UNO-Sicherheitsrat und zugleich eine Atommacht richten. Damit bekennt sich die Schweiz implizit zu einer Wertegemeinschaft und einem Wirtschaftsraum namens EU. Der Bundesrat hat einen Schritt gemacht, den man nicht unterschätzen darf …

… und der die schweizerische Neutralitätspolitik nachhaltig verändern könnte?

Ob der Ukraine-Krieg diese grundlegend verändern wird, werden wir erst in ein paar Jahren sehen. Solche Anpassungen gab es schon immer, und sie erfolgten stets im Austausch und im Abgleich mit den wichtigen Ländern. Die Neutralität eines Staates fügt sich in die Völkerrechtsordnung ein, muss also in der Staatenwelt als insgesamt nützlich anerkannt werden. Das bedeutet nicht, dass man es allen immer recht machen kann oder muss: Russland wird das jetzige Schweizer Vorgehen kaum als neutral bewerten, die Alliierten taten es im Zweiten Weltkrieg auch nicht.

«Diese imperialistische und nationalistische Politik wird viele Nachahmer finden, wenn sie erfolgreich ist.»

Der Bundesrat hat mehrere Tage gebraucht, um diesen Bruch zu vollziehen. Kann es sich die Schweiz leisten, bei einer möglichen weiteren Verschärfung der Sanktionen erneut so lange zuzuwarten?

Bei der Geschwindigkeit sehe ich kein Problem. Die EU ist es gewohnt, dass die Schweiz etwas länger braucht. Vier Tage sind keine besonders lange Zeit, sofern die Umsetzung nachher greift. Wenn aber Umgehungsgeschäfte stattfinden oder Neutrale die Märkte übernehmen, aus denen sich Produzenten der Konfliktparteien zurückgezogen haben, dann gerät die schweizerische Neutralität schnell unter den Verdacht der Schlaumeierei.

Zu Recht?

Das war in der Vergangenheit leider öfters der Fall. Neutralität wird dann moralisch fragwürdig, wenn sie dem Neutralen nicht Nachteile bringt, zum Beispiel durch den Verzicht auf Rüstungsexporte, sondern ökonomische Vorteile. Neutralität bedeutet auch Verpflichtungen in der Staatenwelt. Andere neutrale Staaten haben zum Beispiel immer wieder UNO-Generalsekretäre gestellt. Die Schweiz hat sich lange beim Engagement in solchen Organisationen stark zurückgehalten und stand deshalb oft als Nutzniesser von Leistungen da, die diese Organisationen mit viel Mühe und Kosten errungen hatten. Dass sich das aber wandelt, zeigt sich am Beispiel des letzten OSZE-Generalsekretärs, des Schweizers Thomas Greminger.

Eine Möglichkeit eines verstärkten internationalen Einsatzes wäre der Einsitz im UNO-Sicherheitsrat, für den die Schweiz derzeit kandidiert.

Ja, der UNO-Sicherheitsrat ist eine Chance für die Schweiz, um politische Verantwortung mitzutragen. Wenn sich die Schweiz wegen innenpolitischer Bedenken, man könnte so die Neutralität verletzen, zurückziehen sollte, würden das die europäischen Partner gerade als Feigheit und egoistische Selbstbezogenheit deuten – mit nachhaltigen Konsequenzen. Die Schweiz hat unbestrittene Kompetenzen im Dialog zwischen verschiedenen Kulturen und Überzeugungen: weshalb diese nicht zur Verfügung stellen?

Wird die Weltordnung nach dem Ukraine-Krieg eine andere sein?

Die Generationen, welche die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, sterben aus. Mit Jahrgang 1952 ist Putin wieder bereit, für relativ bedeutungslose Güter grosse zwischenstaatliche Kriege zu führen. Seinesgleichen beruft sich wieder auf nationalistische Geschichtsbilder eines homogenen Volkes und auf vormoderne Vorstellungen von Stolz und Ehre, um solche Konflikte zu rechtfertigen. Diese imperialistische und nationalistische Politik wird viele Nachahmer finden, wenn sie erfolgreich ist.