Kandidatur für UNO-SicherheitsratWas die Schweiz im Kreis der Supermächte erwartet
Sich innert Stunden in einem weltpolitischen Konflikt positionieren: Das gehört zu den Kernaufgaben des UNO-Sicherheitsrats. Schafft das Aussenminister Cassis’ Departement?
Ein Brief aus Moskau genügte, um das Aussendepartement in Bern in Verlegenheit zu bringen. Aussenminister Sergei Lawrow fordert seinen Schweizer Amtskollegen Ignazio Cassis auf, zu den russischen Forderungen an die USA und die Nato Stellung zu beziehen. Die Führung in Moskau wirft den USA und den Europäern vor, mit der Nato-Osterweiterung im Widerspruch zu internationalen Vereinbarungen gegen russische Sicherheitsinteressen zu verstossen.
Cassis wies sofort von der Schweiz weg, hin zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der die Schweiz angehört. Die Interpretation der Sicherheitsregelung sei Sache der OSZE, sagte Cassis in der Sendung «Samstagsrundschau» von Radio SRF.
Die Hemmungen des Aussenministeriums
Das Beispiel zeigt: Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bekundet Mühe, in Konfliktsituationen Position zu beziehen. Diese Hemmung könnte für das EDA bald zum Problem werden. Am 22. Juni will sich die Schweiz in New York nämlich für die Jahre 2023 und 2024 in den UNO-Sicherheitsrat wählen lassen.
Klappt die Wahl – und danach sieht es derzeit aus –, setzt sich das EDA einem veritablen Stresstest aus. Im Rat wird sich die Schweiz zu weltpolitischen Streitigkeiten dauernd äussern und auch das monatliche wechselnde Ratspräsidium temporär übernehmen müssen.
Da kann es hektisch werden. Wenn in einer Krisensituation ein Mitgliedsstaat dem Sicherheitsrat eine Resolution unterbreitet, stimmt der Rat darüber binnen 24 Stunden ab. Das zwingt die fünf ständigen und zehn nicht ständigen Mitgliedsstaaten dazu, sich innert Stunden zu positionieren. Um das zu bewältigen, muss das EDA in Bern einen ständigen Bereitschaftsdienst einrichten und wohl auch ein Dispositiv aufbauen, um den Gesamtbundesrat in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen.
Auch für die Schweiz gilt: Sie kann sich im Sicherheitsrat ihrer Stimme enthalten. Im Rat ist das aber nicht erwünscht. Über Resolutionen wird zwischen den Staaten hinter den Kulissen hart verhandelt und lobbyiert. In Bern muss man damit rechnen, vor umstrittenen und damit engen Abstimmungen von US-Aussenminister Antony Blinken oder selbst US-Präsident Joe Biden kontaktiert zu werden.
«Die politisch neutrale Schweiz hält sich als UNO-Mitglied schon heute an die Charta und internationales Recht.»
Mit diesem Szenario vor Augen werfen wenige Monate vor der Wahl in den Sicherheitsrat Rechtskonservative die Frage auf: Kann die Schweiz in diesem Powerplay der Grossmächte ihre politische Neutralität bewahren? «Das kann sie problemlos», sagt der langjährige Spitzendiplomat François Nordmann, der die Schweiz an den UNO-Standorten New York und Genf vertrat.
Nordmann betont: «Die politisch neutrale Schweiz hält sich als UNO-Mitglied schon heute an die Charta und internationales Recht und verpflichtet sich, Resolutionen des Sicherheitsrats umzusetzen und Sanktionen und Rügen mitzutragen.» Sowieso eröffne der Sicherheitsrat keine Kriege, sondern habe die Aufgabe, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen und bewaffnete Konflikte zu vermeiden.
Auf schlechtes Wetter vorbereiten
Skeptischer als Nordmann ist Jenö Staehelin, der die Schweiz nach ihrem UNO-Beitritt ab 2002 als erster Botschafter in New York vertrat. Staehelin will sich im aktuellen Kontext zum Thema nicht äussern und verweist auf seine Analyse, die die NZZ im Herbst veröffentlicht hat. Da warnte er: «Ein Sitz im Sicherheitsrat ist riskant; es sei denn, er ist innenpolitisch gut abgestützt.» Wenn man sich auf eine Reise mache, müsse man sich nicht nur überlegen, was passiere, wenn gutes Wetter sei, sondern auch, was zu tun sei, wenn ein Gewitter komme, so Staehelin.
«Die UNO ist universell, global und selbst neutral.»
Für den Pazifisten Jo Lang, Historiker und GSoA-Gründungsmitglied, ist die UNO jedoch absolut kompatibel mit der Neutralität schweizerischer Ausprägung. «Die UNO ist universell, global und selbst neutral», begründet Lang. Dies ganz im Gegensatz zum Nordatlantikpakt (Nato). Dieser entspreche einer Art «Sonderbund des reichen Nordwestens dieser Welt» und sei nicht kompatibel mit der Schweizer Neutralität.
Als Mitglied des Sicherheitsrats müsse sich die Schweiz bewusst sein, dass die Nato ein grosses Interesse an einer schwachen UNO habe, sagt Lang. Und: Die Schweiz müsse ihre Interessen an einer gegenüber Nato und Grossmächten wieder gestärkten UNO offenlegen. Danach habe die Schweiz eine Politik zu betreiben, die diesen Zielen entspreche.
Auch Jo Lang ist die Episode mit dem Brief aus Moskau nicht entgangen. Für ihn ist der Bundesrat auf bestem Weg, beim Lackmustest für ihre Mitgliedschaft im Sicherheitsrat zu versagen. Lang erwartet, dass Aussenminister Cassis im Antwortbrief klar Stellung bezieht. Russland habe aus Sicht der neutralen Schweiz die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Gleichzeitig habe Russland ein Recht darauf, dass an seiner Landesgrenze keine potenziell feindlichen Armeen sind und die Ukraine nicht Nato-Mitglied werden solle.
Schweiz muss Druck aushalten
Die Erfahrungen anderer neutraler Staaten im Sicherheitsrat zeigen laut dem Historiker Sacha Zala, dass eine schweizerische Mitgliedschaft nicht problematisch ist. Der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte begründet dies mit dem Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Dieses erlaube es den USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich, die Notbremse zu ziehen, wenn sie mit einem Entscheid nicht einverstanden seien.
Im Brief Lawrows an Cassis sieht Zala den Versuch Russlands, das Narrativ der neutralen Schweiz zu instrumentalisieren. Die Schweiz habe das Argument der Neutralität in der Vergangenheit dazu genutzt, sich wirtschaftliche und politische Vorteile zu verschaffen. So trug sie Sanktionen gegen bestimmte Staaten teilweise nicht mit. Jetzt versuche Lawrow Vorteile für Russland herauszuholen. Aus Neutralitätsgründen erwarte er von der Schweiz, dass sie sich gegen die Ukraine als neues Natomitglied ausspricht. Russland tue dies im Bewusstsein, dass die Schweizer Neutralität sinnstiftend, nicht wegzudenken und zudem in der Bevölkerung stark verankert sei.
Die Schweiz wird sich an Druckversuche von verschiedener Seite gewöhnen müssen, wenn sie im UNO-Sicherheitsrat vertreten sein will.
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