AboKaltërina Latifi über KolonialismusDie Queen und die dunklen Seiten des Empires
Für unsere Autorin gleicht das, was sich nach dem Tod der Regentin abspielte, einem irrsinnigen Spektakel. Dabei hätte es durchaus diskussionswürdige Themen gegeben.
Seit dem Dahinscheiden der Queen ist ein Monat vergangen. Die Trauer war überwältigend – und sie hatte etwas Kultisches, so unbestritten die Bedeutung von Elizabeth Regina II auch gewesen ist. Wer nichts zu trauern hatte, musste sich dem Trauerimperativ dennoch fügen: in England wurden Flüge gestrichen, Geschäfte geschlossen, chirurgische Eingriffe verschoben, alles «out of respect for the Queen» – ja selbst der Zimmermann hier um die Ecke machte seine Schotten dicht, zu gross die Trauer um die 96-Jährige.
Immerhin gabs noch Strom, man konnte überteuertes Benzin tanken und sich einen Kaffee gönnen. Für mich als zum Teil in London lebende Schweizerin mit kosovo-albanischem Migrationshintergrund und betont nicht-royalistischen Tendenzen – manche englischen Freunde nennen mich «Sansculottistin» – glich das, was sich in den letzten Wochen abspielte, einem irrsinnigen Spektakel.
Die Menschen liessen alles stehen und liegen, um bis zu dreissig Stunden anzustehen, weil sie in der Westminsterabtei einen Sarg sehen wollten (selbst David Beckham stand Schlange, er schaffte es in zwölf Stunden).
Doch nicht nur die Briten trauerten um ihre Königin, auch die von Natur aus republikanischen Schweizer schienen untröstlich zu sein, als hätten sie eine regina helvetica verloren. Die mediale Dauerbeschallung machte es einem auch schwer, an anderes zu denken. Viele meinten, sie würden etwas verpassen, wenn sie nicht mitmachten, mittrauerten und mitansahen, wie die Queen zu Grabe getragen wurde. Und wie schön die Zeremonie gewesen sei, erzählte man mir, und so traurig.
Sicherlich, mit dem Tod von Elizabeth II endet eine Ära. Dieser Einschnitt verdient unsere Aufmerksamkeit; er lädt gerade die Briten dazu ein, innezuhalten und zu reflektieren: Wo stehen sie, wohin wollen sie, und nicht minder entscheidend die Frage: wie verhalten sie sich zu ihrer kolonialen Vergangenheit?
Es verwundert nicht, dass in den englischen Medien diese Themen kaum Erwähnung fanden. Wer will sich schon seiner imperialistisch-kolonialistischen Geschichte stellen. Wohltuender ist es, wenn man sich stattdessen feiern kann: Great Britain, gross, mächtig und seit dem Austritt aus der EU wieder unabhängig. Hurray!
Die Queen hatte während ihrer Regentschaft ja auch mehr als ausreichend Zeit, sich beispielsweise entschuldigend zum britischen Kolonialismus zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert zu äussern, der nach allgemeinen Schätzungen Opfer im zweistelligen Millionenbereich gefordert hat. Aber das ist «water under the bridge» – wie die Engländer sagen. Schnee von gestern.
Wie alles hat auch das britische Königreich zwei Seiten. Während die einen insgeheim hofften, die Queen sei unsterblich, unzerstörbar wie ein Traditionsfels in der sich immer schneller wandelnden Weltenbrandung, haben andere, deren Vorfahren die kolonialistische Macht der britischen Krone am eigenen Leibe erfahren mussten, eine ganz andere Sicht auf dieses historische Ereignis. Der südafrikanische Comedian Trevor Noah beispielsweise betonte, dass man die Unterdrückten nicht dazu zwingen könnte, um den Unterdrücker zu trauern.
Vielleicht wäre es ohnehin an der Zeit, die Königsmedaille einmal von allen Seiten genau zu inspizieren. Womöglich käme man sogar zum Schluss, zu dem Friedrich Hölderlin bereits 1800 gekommen war: «Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr».
Kaltërina Latifi ist Essayistin und Literaturwissenschaftlerin.
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