US-Journalist in Gefangenschaft Die perfide Isolierung im Lefortowo-Gefängnis
Evan Gershkovich befindet sich im berüchtigtsten Gefängnis für Dissidenten und Spione Russlands, das die Insassen durch fast komplette Isolation psychisch brechen will.
Als der Moskau-Korrespondent des «Wall Street Journal», Evan Gershkovich, am 29. März in Jekaterinburg, rund 1400 Kilometer östlich der russischen Hauptstadt, ein Restaurant betrat, rechnete er wohl kaum damit, dass er sich einige Tage später in einem der berüchtigtsten Gefängnisse Russland wiederfinden würde.
Das Untersuchungsgefängnis Lefortowo, dessen Haupttrakt von der Luft aus betrachtet ein grosses «K» bildet, ist ein Relikt aus Sowjetzeiten: Es ist bekannt für seine rigorose Abschottung der Häftlinge, die für die Zeit ihrer Haftstrafe keine Kenntnisse über das Geschehen ausserhalb der Gefängnismauern haben sollen. Besuche von Familienangehörigen und Bekannten werden in der Regel verunmöglicht. Das Ziel ist die Schaffung eines Gefühls der totalen Verlassenheit und Isolation.
In einer Zeitkapsel
Die äusserlich unscheinbare Haftanstalt im Osten Moskaus wurde 1881 als Militärgefängnis errichtet. Sie ist nach dem Genfer Admiral François Le Fort, einem Vertrauten des Zaren Peter I., benannt. Seine zweifelhafte Bekanntheit erlangte Lefortowo durch die Verhöre, Folterungen und Hinrichtungen während des Terrors unter Josef Stalin. Nach Stalin diente das Gefängnis dann als Haupthaftanstalt für den russischen Geheimdienst KGB, der es für die Inhaftierung von Spionageverdächtigen und politische Dissidenten verwendete. Abgesehen von einem kurzen Unterbruch nach dem Untergang der Sowjetunion hat die Haftanstalt ihre Funktion als Untersuchungsgefängnis für Aufständische und der Spionage Beschuldigte beibehalten.
Das Markenzeichen von Lefortowo ist, dass es seine Insassen in «totaler Informationsisolation hält», wie der Menschenrechtsanwalt Yevgeny Smirnov, der Spionage- und Korruptionsverdächtige in Lefortowo verteidigt hat, der Nachrichtenagentur AP erklärte. «Keine Anrufe, keine Besuche, keine Zeitungen, nichts. Im besten Fall erhalten die Häftlinge Briefe – und selbst dann höchstwahrscheinlich mit einer Verzögerung von ein oder zwei Monaten. Es ist eines der Werkzeuge der Unterdrückung.»
Die Inhaftierten werden in rund zweieinhalb mal dreieinhalb Meter grossen Zellen gehalten, wie das «Wall Street Journal» mit Verweis auf ehemalige Insassen und Besucher berichtet. Winzige Fenster befinden sich über Augenhöhe, sodass die Insassen nur den Himmel sehen können. Zwei Betten mit Metallrahmen und Schaumstoffmatratzen stehen neben einer Edelstahltoilette. Alle paar Minuten blickt ein Wachmann durch ein rundes Fenster an der Tür herein.
Ein Gefühl der totalen Isoliertheit
Gershkovich befindet sich sehr wahrscheinlich in einer anfänglichen zweiwöchigen Isolationshaft, wie ehemalige Häftlinge und Anwälte dem «Wall Street Journal» erklärten. Neuankömmlinge würden zu Beginn in einem Metallkäfig stehen und einer Leibesvisitation unterzogen. Während der dann folgenden Quarantäne würden die Häftlinge auf Krankheiten getestet. Der Gefängnisalltag besteht aus der Tagwache um 6 Uhr in Form eines Knalles an die Zellentür. Während des Tages können die Insassen zu stundenlangen Verhören geholt werden.
Während des Ganges zu den Verhörräumen würden die Gefängniswächter absichtlich Geräusche mit ihren Schlüsseln machen oder mit den Fingern schnippen, damit die Insassen keinen anderen Häftlingen begegnen würden. Das Ziel ist ein Gefühl der totalen Isoliertheit, wie der russische Investigativjournalist Andrei Soldatow, der vor seiner Emigration nach London mehrfach in Lefortowo einsass, dem «Wall Street Journal» berichtete: «Man kann niemanden sehen und ist völlig allein. Es gibt kein Geräusch, nichts. Es macht einen wirklich verrückt.»
Während der Verhöre wird versucht, die Befragten mit endlosen beamtenhaften Fragen zu zermürben und Geständnisse zu erwirken, wie Soldatow weiter erklärte: «Sie stellen viele bürokratische Fragen in einer sehr langsamen Art und Weise. Sie scheinen sehr anspruchslos zu sein, aber es ist ein Trick.» Die Beamten würden darauf abzielen, die Antworten der Gefangenen in ihre eigene bürokratische Sprache umzuformulieren, um den Eindruck eines Geständnisses entstehen zu lassen.
Möglicher Gefangenenaustausch
Gershkovich recherchierte in Jekaterinburg über die Wagner-Söldnertruppe und wollte Leute in der Industriestadt und dem nahe gelegenen Nischni Tagil, in dem sich Panzerfabriken befinden, nach ihrem Befinden zum Ukraine-Krieg befragen, wie der unabhängige russische Journalist Dmitry Kolezev zu NBC News sagte. Verschiedene Beobachter gehen aber davon aus, dass Gershkovich nicht wegen seiner angeblichen Spionageaktivitäten über die Fabrik verhaftet wurde, welche ihm die russischen Behörden vorwerfen, sondern zum Zweck eines Gefangenenaustauschs. So berichtete die «Washington Post», dass ein mutmasslich russischer Spion, der unter einer falschen brasilianischen Identität ein Studium in Washington D.C. absolvierte, nur wenige Tage vor Gershkovich offiziell wegen nachrichtendienstlicher Aktivitäten angeklagt wurde. Auch das «Wall Street Journal» nennt mehrere Fälle – wie jenen des ehemaligen amerikanischen Russlandkorrespondenten Nicholas Daniloff, der nach 20 Tagen Haft in Lefortowo gegen einen russischen Gefangenen in den USA ausgetauscht wurde.
Das «Wall Street Journal» hat die russische Regierung derweil beschuldigt, Gershkovich als Geisel genommen zu haben, und bezeichnete die Spionagevorwürfe «von vornherein zweifelhaft» und «eine kalkulierte Provokation, um die USA in Verlegenheit zu bringen und die ausländische Presse, die noch in Russland verblieben ist, einzuschüchtern», wie die Zeitung in einem Leitartikel vom 30. März schrieb.
Die russischen Anwälte Yevgeny Smirnov und Ivan Pavlov sagten der Nachrichtenagentur AP, dass Spionageuntersuchungen des russischen Geheimdienstes normalerweise zwischen einem Jahr und 18 Monaten dauerten. Danach folge in der Regel ein Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Seit 1999 habe es in Russland keine Freisprüche in Spionagefällen mehr gegeben. Bei einer Verurteilung drohen Gershkovich bis zu 20 Jahre Haft.
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