Bruch mit dem WestenVerschluckt von Putins Staat
Evan Gershkovich wurde als erster westlicher Journalist als angeblicher Spion verhaftet. Für Russen aber gehört so etwas längst zum Alltag.

Das vorläufig wohl letzte Bild von Evan Gershkovich erhaschte einer seiner russischen Kollegen: Der Journalist hatte im abgesperrten Treppenhaus des Gerichtsgebäudes ausgeharrt. Als der Gefangene oberhalb der Treppe abgeführt wurde, offenbar mit gefesselten Händen, drehte er ein kurzes Video. Gershkovichs Gesicht ist darauf nicht zu erkennen, nur ein Mann im gelben Pulli, die Kapuze über den Kopf gezogen.
Gershkovich soll im Moskauer Lefortowo-Gefängnis auf seinen Prozess warten, zu Stalins Zeiten folterte und erschoss der Geheimdienst dort politische Häftlinge. Heute ist es nur noch ein Untersuchungsgefängnis, aber eines, das als besonders verschlossen gilt. Das Spionageverfahren gegen Gershkovich wurde als geheim eingestuft, weder Presse noch Besucher dürfen in den Gerichtssaal. Es ist, als hätte der russische Staat den Amerikaner verschluckt.
Ein Mensch verschwindet im Gefängnis, in Russland gehört das heute zum Alltag. Gershkovichs Fall aber ist besonders: Er ist der erste westliche Journalist, der im modernen Russland wegen Spionage verhaftet wurde. Seine Festnahme kann man als endgültigen Bruch Wladimir Putins mit dem Westen interpretieren, eine neue Eskalationsstufe. Gershkovich, so befürchten viele, soll ihm als Druckmittel dienen und als mögliches Faustpfand.
Neue Zensurgesetze
Der Fall zeigt auch die rasende Geschwindigkeit, mit der sich Russland zur Militärzensur entwickelt hat. Immer drastischere Gesetze führen zur immer aggressiveren Verfolgung Andersdenkender. Nicht nur das Spionagegesetz, dessen Bruch der FSB Gershkovich vorwirft, ist seit Kriegsbeginn stark ausgeweitet worden. Im März 2022 unterschrieb Putin zwei Zensurgesetze, die vor allem einem dienen: die Sichtweise des Kreml auf den Krieg zur einzigen Wahrheit zu erklären. Wer sich abweichend von der offiziellen Linie äussert, riskiert wegen «Diskreditierung» der Streitkräfte oder «Falschnachrichten» angeklagt zu werden. Erste Urteile sind längst gefallen, Moskauer Oppositionelle für sieben und acht Jahre ins Gefängnis geschickt worden.
Es wird nicht dabei bleiben: Die Bürgerrechtsorganisation OWD-Info zählt mehr als 510 Fälle, in denen Russen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie sich kritisch zum Krieg geäussert haben. Meistens betrifft das Kommentare in sozialen Medien, aber auch Plakate, Unterrichtsstunden, Bezirksratssitzungen. Fast nirgendwo kann man mehr offen reden.
Die Liste von Verboten wird ständig länger
Die meisten unabhängigen russischen Journalisten haben das Land wegen der Zensurgesetze verlassen. Nicht alle, aber viele ausländische Korrespondenten blieben. Dass Evan Gershkovich nun wegen Spionage statt angeblicher «Fake News» angeklagt wurde, erhöht eine mögliche Haftstrafe. Die Liste der Dinge, über die man nicht mehr reden oder schreiben darf, wird ohnehin ständig länger: Nicht nur Informationen über die Armee, ihre Taktik, ihre Verluste, ihre Vergehen, sondern auch über Versorgung, Ausbildung, sogar über die Stimmung innerhalb der Truppe sind verboten. Wer über sinkende Moral der Streitkräfte schreibt, riskiert ein Verfahren wegen «Diskreditierung» der Armee. Wer online Informationen über Panzerproduktionen sucht, gerät womöglich unter Spionageverdacht.
Das ist nicht nur für Journalisten heikel. OWD-Info veröffentlicht täglich eine ganze Liste mit Fällen: So etwa von dem Moskauer Michail Simonow (62). Er wurde, ebenfalls am Donnerstag, für einen Eintrag im sozialen Netzwerk VKontakte zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. «Während Kinder und Frauen getötet werden, singen wir Lieder auf dem Ersten Kanal», schrieb er, der Erste Kanal ist ein kremltreuer Staatssender. Ein Vertragssoldat von der Krim, der nicht kämpfen wollte, wurde zu neun Jahren strenger Lagerhaft verurteilt; ein Mitarbeiter des Moskauer Instituts für Physik und Technologie kam für einen kritischen Kommentar über das Verhalten der Truppen ins Untersuchungsgefängnis. Die Liste geht weiter, und es sind nur die Fälle vom Donnerstag.
Eine Schafherde, die von Hunden gebissen wird
Das Gefühl, dass es jeden jederzeit treffen kann, lässt den kritisch denkenden Teil der Gesellschaft stumm werden und passiv. Menschen haben Angst, mit Journalisten zu sprechen. Oder gelb-blaue Kleidung zu tragen. Oder auch nur, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, mit anderen Kriegsgegnern. Der Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow verglich die russische Bevölkerung kürzlich mit einer Schafherde, die mal hier, mal dort von den Schäferhunden gebissen werde. So bewege sie sich immer dorthin, wo der Schäfer sie haben wolle, sagte er in einem «Meduza»-Interview. Die Liste der Vorschriften und Verbote wächst dabei immer weiter: Im vergangenen Jahr verabschiedete die Staatsduma 653 neue Gesetze.
Dabei bestimmt allein der Kreml, was richtig ist und was falsch. Selbst Zahlen und Fakten internationaler Organisationen lässt er nicht gelten, die UNO, der Internationale Strafgerichtshof, Amnesty International sind in Putins Augen russlandfeindliche Werkzeuge des Westens. Gruppen, die sich in Russland für Aufklärung oder eine aktive Zivilgesellschaft eingesetzt haben, wurden zu «unerwünschten Organisationen» erklärt. Wer etwa mit Transparency International kooperiert, mit der unabhängigen russische Nachrichtenseite «Meduza» oder der Heinrich-Böll- Stiftung, macht sich strafbar.
Evan Gershkovich hat als unabhängiger Journalist über Russland berichtet, seine objektiven Recherchen interpretiert der FSB in Spionage um. Putin zeigt der Welt, was viele Russen schon wussten: In Russland kann es jeden treffen.
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