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AboTödliche Dichte
Die Kehrseite der Urbanisierung

Leere Gassen im Zürcher Niederdorf am 21. März 2020.
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Wer in Vor-Corona-Zeiten über die lebenswerte Stadt sprach, der redete von Dichte. In dem Begriff konzentrierte sich all das, was eine Stadt bis dahin so anziehend gemacht hat: das Zusammentreffen von Menschen und der Austausch, der dadurch entsteht. Die Wirtschaftskraft, die sich hier bündelt. Die Vielfalt an Unterhaltung, egal ob Kino, Theater, Museum oder Zoo. Die Firmen folgten dem Sog und erzeugten neuen. Die Welt urbanisierte sich in nie gekanntem Ausmass, weil jeder Einzelne sich dort mehr Erfolg versprach. Das Versprechen der Stadt war die Dichte an Menschen und die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben.

Vorbei. Die Nähe zu anderen Menschen ist im Augenblick gefährlich, für manche ist sie sogar tödlich. Das Coronavirus macht zwar keinen Unterschied zwischen Stadt und Land, und doch trifft es die Städte ungleich härter. Das liegt nicht nur an der Grösse einer Metropole, wodurch sich die Ansteckungsgefahr durch das Virus erhöht und Städte sich zu den Zentren der Pandemie entwickeln. Es liegt vor allem an dem, was eine Stadt ausmacht, an ihrem Wesen. Eine Stadt ist auf Vernetzung ausgelegt, dem Austausch möglichst vieler Menschen, Waren und Dienstleistungen, am besten rund um die Uhr.

Das ist ihr Erfolgsrezept, und zwar seitdem es sie gibt. Uruk, die erste Megacity der Welt im Süden Mesopotamiens, wo 25'000 Einwohner auf engem Raum zusammenlebten, funktionierte da vor gut 5000 Jahren im Prinzip nicht anders als heute New York. Denn Städte waren vor allem immer eines: bedeutende Handelszentren. Jede wichtige Megacity der Gegenwart geht auf einen wirtschaftlichen Knotenpunkt zurück. Meist mit angeschlossenem Hafen, immer mit dem Versprechen, von hier aus bessere Geschäfte machen zu können. Das liess sich die politische Macht nicht entgehen und platzierte sich gut sichtbar im Zentrum einer jeden Metropole. Das öffentliche Leben war der Pulsschlag einer Stadt.

Viel ist in den vergangenen Tagen über den unwirklichen Eindruck der leeren Städte geschrieben worden. Die New York Times zeigte die entvölkerten Metropolen in einem Fotoessay, von London, New York São Paulo bis zu Delhi, Bangkok und München, und schrieb, «die Bilder beschwören die Romantik von Ruinen herauf». Das mag übertrieben klingen, aber tatsächlich ist die surreale Leere jeder Stadt, so schön sie im Moment auch erscheinen mag – Architekturfotografen haben lange vor Corona die Menschen aus ihren Bildern getilgt, um die Bauten in ihrer Reinheit zeigen zu können -, ihr Untergang. Vernichtet sie doch das, was eine Stadt bis dahin angetrieben hat, allem voran ihre Wirtschaft.
Kleine Wohnungen nehmen Charakter von Gefängniszellen an
Einzelhandel und Gastronomie leben vom Passanten. «Todeszone Erdgeschoss» hat vor gefühlten Lichtjahren die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk die Ladenzone genannt, weil es derart viel Publikumsverkehr braucht, damit sich ein kleines Café, ein Buchladen oder das Geschäft für Kindermode halten kann. Angesichts horrender Mieten in den Städten war es schon vor Corona ein Drahtseilakt, finanziell zu überleben. Jetzt wissen viele nicht, ob sie nach den Ausgangsbeschränkungen überhaupt wieder aufsperren können, allen Hilfsbekundungen zum Trotz.

Aber auch die Innovationskraft der Städte kommt zum Erliegen. Wo viele Menschen zusammenkommen, wo unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinanderprallen, sich austauschen, Kontakte knüpfen, dort entstehen Erfindungen. Die Stadt macht den Menschen innovativ, vor allem weil sie ihm die räumliche Nähe dazu bietet. Städteforscher Luis Bettencourt vom Santa Fe Institute verglich diese Fähigkeit mal mit Prozessen im Weltall: «Eine Stadt funktioniert wie ein Stern. Wie sie Menschen anzieht und soziale Interaktionen und Leistungen beschleunigt, gleicht dem, wie Sterne Masse anziehen und immer heller brennen, je grösser sie sind.»

Diese urbane Kraft zeigt sich gerade auch in den Künsten. Es mag immer wieder Maler, Musiker, Schriftsteller oder Architekten gegeben haben, die sich aufs Land geflüchtet haben, um dort kreativ zu sein. Aber im Grossen und Ganzen ist die Kultur eine Geschichte der Städte. Nicht nur, weil sie hier ihre Bühne findet, sondern durch die Inspirationen, die Metropolen den Künstlern liefern. Städte können aber auch Menschen schulen, und zwar darin, andere Menschen auszuhalten. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schrieb in seinem Plädoyer für die offene Stadt, dass Kinder, die in Städten aufwachsen, eine grössere Chance haben, demokratische Bürger zu werden. Warum? «Weil sie es ganz physisch lernen», erklärte er im Gespräch. Weil sie ab der Kita unterschiedliche Nationalitäten und Glaubensrichtungen kennenlernen. Weil sie auf dem Spielplatz lernen müssen, dass Schaukel und Rutsche zu teilen sind, und auf dem Schulhof, dass es andere Kulturkreise und Milieus gibt als die eigenen.

Der Begriff «sozial» benenne «die Fähigkeit, denselben Platz zu bewohnen wie Menschen, die ganz anders sind als man selbst», so Sennett. Vor Corona führte das jeder Spaziergang in einer halbwegs grossen Stadt vor Augen, egal ob man den im Münchner Glockenbachviertel, in Berlin-Friedrichshain oder in Brooklyn, New York, absolvierte. In Fragen der Kleidung, der sexuellen Ausrichtung oder auch der Erwerbstätigkeit liegen oft Welten zwischen den Passanten, die sich da eine Postleitzahl teilen.
Architekten müssen den Städten ihren Schrecken nehmen
Indem der öffentliche Raum gegewärtig zur No-go-Area mutiert und Absperrbänder um ehemalige Treffpunkte flattern, zeigt sich die Kehrseite von dem, was es heisst, auf dichtem Raum zu leben. Denn das kann nur dann halbwegs stressfrei funktionieren, wenn gleichzeitig genügend Freiräume bereitstehen. Wenn also der Spielplatz das eigene Spielzimmer ersetzt, der Park die Funktion des privaten Gartens und das Restaurant die lange Tafel im Esszimmer, um Freunde zu bewirten. Städter haben im Schnitt deutlich weniger Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung als Landbewohner. Was dort als absoluter Luxus gilt – das eigene Haus mit Garten -, ist auf dem Land die Norm.

Die momentane Lieblingsbeschäftigung vieler Städter – Müll wegbringen und ausmisten – ist es auch deswegen, weil sie nicht viel Platz haben, vor allem keinen, den sie verschenken können. Wohnen auf wenig Raum, was unter ökologischen Gesichtspunkten eigentlich geboten ist, weil es den Flächenverbrauch reduziert, wirkt jetzt bedrohlich. Kleine Wohnungen nehmen eben schnell den Charakter von Gefängniszellen an, wenn man zu Hause in Quarantäne sitzt und nicht hinausdarf.

In Krankheitszeiten war die Dichte der Stadt schon immer ihr grösstes Problem. Die schmalen Gassen, die vielen Menschen auf engem Raum und die fehlenden Sanitäranlagen machten Städte im Mittelalter zu Brutstätten von Krankheiten und Seuchen. Mit der Industrialisierung und dem Zuzug von immer mehr Menschen in die Metropolen verschärfte sich die Situation. Die charmant verwinkelten Zentren dienten den Stadtplanern der Moderne als Schreckensszenario. Ihr grosses Versprechen war es, den Bewohnern ein besseres, weil hygienischeres Leben zu ermöglichen. Ihre Massnahmen dafür waren radikal.

Georges-Eugène Haussmann etwa liess in Paris Ende des 19. Jahrhunderts ganze Strassenzüge und insgesamt 40'000 Häuser abreissen, um aus dem schmutzigen, von Cholera heimgesuchten Paris eine moderne Hauptstadt zu machen. Die Architekten des Neuen Frankfurt propagierten in den Zwanzigerjahren Licht und Luft statt der gedrängten Enge der Frankfurter Altstadt und planten raumgreifende Neubausiedlungen auf der grünen Wiese. Viele Entwürfe, die damals mit dem Wunsch nach einer gesünderen Stadt entstanden, verschwanden im Zweiten Weltkrieg in der Schublade – um danach zügig als autogerechte Stadt realisiert zu werden.

Seuchentechnisch mag diese im Augenblick als Ideal erscheinen. Keine dicht bevölkerten öffentlichen Plätze, dafür Strassen, auf denen jeder sich separiert in seinem eigenen Auto fortbewegt. Ökologisch, ökonomisch und sozial aber ist das nicht. Weswegen jetzt die Stunde der Architekten schlagen müsste: Sie müssen der Dichte unserer Städte ihren Schrecken nehmen, ohne sie wieder zu zerstören.

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