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Interview mit Nuklearforscherin
«Die jungen Menschen sind offen für alle Technologien, auch die Kernkraft»

Möchte dazu beitragen, dass die Kernenergie wieder positiver wahrgenommen wird: ETH-Professorin Annalisa Manera.
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Noch vor wenigen Jahren hat die Nuklearindustrie über mangelnden Nachwuchs geklagt. Finden Sie überhaupt noch Studierende in der Schweiz in Ihrem Fach? 

Die Studentenzahl nimmt in den letzten Jahren zu. In diesem Jahr haben 26 Studierende mit dem Masterstudiengang Nuclear Engineering an der ETH Zürich begonnen, im Vorjahr waren es 15. Das ist beachtlich für einen spezialisierten Master in Nukleartechnik. Im letzten Jahr waren sogar die Hälfte der Studierenden Frauen. In diesem Jahr sind es zwar nicht mehr so viele. Aber ich kenne keine Ingenieurprogramme, die das geschafft haben.  

Überrascht Sie das?

Nein. Die jungen Menschen zeigen ein deutlich grösseres Bewusstsein für die Umwelt und den Klimawandel als früher und sind offen für alle möglichen technischen Lösungen. Dazu gehört auch die Kernkraft.

Sie denken, es ist die Sorge um den Klimawandel, die das Interesse an der Kernenergie wieder weckt?

Als ich 2004 in Deutschland tätig war, war dort die Politik überzeugt, dass hundert Prozent Solar- und Windenergie der richtige Weg sei für eine nachhaltige, klimaschonende Energieversorgung. Doch die Umsetzung hat sich laufend verzögert. Nun hat sich das Klimaproblem weiter verschärft, und es fehlt allmählich die Zeit, um die internationalen Klimaziele zu erreichen. Die US-Regierung zum Beispiel ist inzwischen der Meinung, dass das Klimaproblem ohne Kernenergie nicht gelöst werden kann.

Der Schock nach dem Reaktorunglück in Fukushima wirkt nicht mehr nach?

Vor dem Unfall war die Stimmung in Europa und den USA eher freundlich gegenüber der Nuklearenergie, abgesehen von Deutschland, wo die Energieform immer kritisch beobachtet wurde. Auch in der Schweiz gab es Gesuche für den Bau neuer Kernkraftwerke. Nach dem Unglück kippte die Stimmung. Ich war damals Professorin in Michigan. Meine Sorge war, dass in den USA die Nuklearforschung heruntergefahren wird, aber das war nicht der Fall. Nun sind die Vorbehalte gegenüber der Nuklearenergie wieder deutlich kleiner. In den USA sind in den letzten zwei bis drei Jahren so viele Start-ups in der Nuklearindustrie entstanden wie nie zuvor. 

Was ging Ihnen persönlich durch den Kopf nach Fukushima?

Ich hatte gemischte Gefühle. Ich habe in der Schweiz und in Deutschland gearbeitet, in beiden Ländern werden die Reaktoren regelmässig auf den neusten Stand der Technik angepasst. Das Problem war, dass der betroffene Reaktor in Fukushima vierzig Jahre alt und nicht auf dem neusten technischen Stand war. Dabei gibt es in Japan seit den 1990er-Jahren Reaktoren, die gegen Wasserfluten geschützt sind. Mit solchen Reaktoren hätte das Notstromsystem nach dem Tsunami in Fukushima funktioniert, und es wäre nicht zu einer solchen Katastrophe gekommen.

Sie haben 1992, fünf Jahre nach Tschernobyl, mit dem Studium in Nuclear Engineering begonnen, hat Sie die Katastrophe nicht nachdenklich gestimmt?

Ich wollte eigentlich theoretische Physik studieren. Aber mein Vater war Bauingenieur, und er hätte es lieber gesehen, wenn ich mich für ein praktischeres Studium entschieden hätte. Also suchte ich mir ein Ingenieurstudium, das sich am meisten der theoretischen Physik widmet. In dieser Zeit lief in Italien gerade das fünfjährige Moratorium für den Bau von Kernkraftwerken aus, es gab deshalb viele Studierende, die mit dem Studium in Nuclear Engineering begannen. Wir waren 44, davon vier Frauen. Als 18-Jährige habe ich mir nicht so viele Gedanken gemacht über die Zukunft der Kernenergie, obwohl ich mich sehr gut an Tschernobyl erinnerte, ich war damals 12 Jahre alt. Ich erinnerte mich aber auch an die Chemiekatastrophe in Bhopal zwei Jahre zuvor, bei der Tausende Menschen an den unmittelbaren Folgen starben. Da hat man danach auch nicht die Chemieindustrie abgeschafft.

Nun sind Sie von den USA in die Schweiz an die ETH Zürich gewechselt, in ein Land, das den Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen hat. Warum?

Die ETH Zürich ist eine weltweit anerkannte Hochschule, die den Forschenden viel Freiheit lässt. Ich habe in den zehn Jahren in den USA ein grosses Netzwerk knüpfen können. Ich arbeite auch noch an einigen Forschungsprojekten dort. Die Distanz ist kein Problem.

«Technisch ist die Entsorgung von radioaktivem Abfall gelöst, die Umsetzung ist letztlich eine politische Entscheidung.»

Wie erklären Sie sich, dass die Kernenergie in Europa wieder en vogue werden könnte und es selbst in der Schweiz politische Ambitionen gibt, das Bauverbot für neue Kernkraftwerke aufzuheben?

Es ist nun an der Zeit, sich ernsthaft Gedanken zu machen, welches die richtige Energieversorgung für ein Land ist. Der Bau einer dezentralen Energieversorgung mit Sonnen- und Windenergie ist absolut richtig. Aber ich denke, die starken wetterbedingten Schwankungen dieser Energieform lassen sich ohne Bandenergie wie die Kernkraft nicht vollständig ausgleichen. Ich erinnere mich an den zweiwöchigen Schneesturm in Texas im letzten Winter. Drei der vier Kernkraftwerke waren praktisch ununterbrochen am Netz, weil die Fotovoltaikanlagen ausgefallen und die Windturbinen eingefroren waren. Der Gasverbrauch für die Heizungen war riesig, der Gaspreis stieg enorm. Anscheinend sieht auch die EU-Kommission die Kernenergie als Teil des zukünftigen nachhaltigen Strommix in Europa.

Sie unterstützen also die EU-Kommission, die in der Kernkraft eine «grüne» Energieform sieht? Auch wenn das Problem mit der Lagerung von radioaktivem Abfall noch nicht gelöst ist? 

Technisch ist die Abfallentsorgung gelöst, die Umsetzung ist letztlich eine politische Entscheidung. Sogar das deutsche Öko-Institut, das sehr «grün» denkt, sagt das. Finnland will als erstes Land Mitte der 2020er-Jahre ein Endlager für hoch radioaktiven Abfall in Betrieb nehmen.

Aber warum sollen wir in eine Energieform investieren, die gefährlichen Abfall hinterlässt?

Grundsätzlich gibt es keine Energieform, die keinen Abfall produziert. Natürlich haben wir bei der Lagerung von radioaktivem Abfall das Problem, dass sie permanent kontrolliert werden muss. Aber das ist bei toxischen Abfällen in der Chemieindustrie auch nicht anders. Mit dem Unterschied, dass die Kernenergie verhältnismässig wenig Abfall hinterlässt und die Radioaktivität mit der Zeit abnimmt. Toxische Abfälle sind aber auch nach tausend Jahren noch so giftig wie heute. Die Diskussion um die Kernkraft ist immer noch zu emotional beladen. Der Grund ist die irrationale Angst vor Radioaktivität. Ich möchte dazu beitragen, dass die Kernenergie wieder positiver wahrgenommen wird.

Das Lager für hoch radioaktiven Abfall wird in der Schweiz frühestens 2060 in Betrieb genommen. Der Widerstand gegen die Kernkraft ist nach wie vor gross.

Die Schweiz hat sich zwar entschieden, schrittweise aus der Kernkraft auszusteigen. Aber nicht sofort. Ich interpretiere das so, dass man sich Zeit lassen wollte – auch zum Nachdenken. Nun sind zehn Jahre seit Fukushima verstrichen, die Regierung warnt bereits vor möglichen Strommangellagen ohne Stromabkommen in der EU. Die aktuelle angespannte Lage mit Russland zeigt, dass Gas sehr schnell knapp werden könnte und die Gaspreise weiter steigen. Bisher ist nur ein Bruchteil der Stromproduktion durch Solarenergie abgedeckt. Bereits wird aber trotz dem grossen Anteil an Wasserkraft über Gaskraft diskutiert, um die Stromversorgung im Winter zu stabilisieren. Die Zeit ist vorbei, um nur über die grossen Potenziale der Fotovoltaik zu sprechen. Ich sehe noch keinen Weg, wie dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann. Auch über die notwendigen Speicher für die kurzfristige Stabilisierung der Stromversorgung wie etwa Batterien finde ich derzeit keine konkreten Pläne. Das gilt für ganz Europa.

«Ohne politische Sicherheit und mit den garantierten Subventionen für Windkraft und Sonnenenergie würde ich als Firma auch auf erneuerbare Energien setzen.»

Sie meinen, wir sollen mehr mit der Realität rechnen?

Ja. Wir werden uns wohl entscheiden müssen zwischen Gas- und Kernkraft als Ergänzung zu den erneuerbaren Energien.

Der Reaktor Oikuluoto 3 in Finnland ist nach über zehnjähriger Verspätung nun ans Netz gegangen, das Budget wurde massiv überzogen, im französischen Flamanville hat man auch Probleme beim Bau eines modernen Kraftwerks. Warum sollte man in die Kernkraft investieren?

Das Problem ist, dass man in Europa seit Jahrzehnten kein Kernkraftwerk mehr gebaut hat. In dieser Zeit sind auch viele Zulieferfirmen weggefallen – und mit ihnen das Know-how. Ganz im Gegensatz zu China, Russland oder Korea, wo neue Reaktoren entwickelt und gebaut wurden. Ich bin aber sicher, dass dieser Verlust an Wissen mit den Projekten in Finnland und Frankreich wieder wettgemacht wird.

Aber die grossen Schweizer Stromproduzenten haben derzeit kein Interesse, in die Kernkraft zu investieren, weil sie nicht rentiert und die Zukunft zu unsicher ist.

Sie haben kein Interesse, weil es keine stabile politische Entscheidung gibt. Vor Fukushima hatte die Nuklearindustrie noch die Absicht, in neue Reaktoren zu investieren. Aber ohne politische Sicherheit und mit den garantierten Subventionen für Windkraft und Sonnenenergie würde ich als Firma auch auf erneuerbare Energien und nicht auf Kernkraftwerke setzen.

Selbst die viel gepriesenen kleinen, modularen Kernkraftwerke sind umstritten, erst in Entwicklung und vermutlich erst Mitte der 2030er-Jahre auf dem Markt.

Das ist bei anderen Projekten ebenso: Wir brauchen auch Zeit, um Gaskraftwerke mit CO2-Abscheidung und ein Speichernetz aufzubauen. Wichtig ist jetzt, dass die Schweiz einen Grundsatzentscheid fällt: Was ist das Beste für unser Land? – Mit Blick auf das Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein.

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