Historische SteinlawinenDie grössten Bergstürze der Schweiz
Vor 9000 Jahren in Flims, 2017 in Bondo: Diese Bergdörfer kennen Naturkatastrophen, wie sie derzeit in Brienz drohen. Welches war die spektakulärste, welche die verheerendste?
«Zu den furchtbarsten Elementarereignissen der Alpen gehören die Bergstürze. Nicht der vergängliche, leicht gewobene Schleier einer Staublawine oder selbst das Wüthen entfesselter Wassermassen schreckt das Gemüth des Gebirgsbewohners am Meisten, weit fürchterlicher wird der Eindruck, wenn ein ganzer Berg in Bewegung kommt», notierte Dr. Armin Baltzer im Jahrbuch des Schweizerischen Alpen-Clubs 1875.
Er stand unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse des Jahres 1806, als ein Bergsturz drei Schwyzer Dörfer unter einer bis zu 50 Meter hohen Schuttschicht begrub. Immer wieder suchen kleinere und grössere Berg- und Fesstürze die Schweiz heim. Derzeit bröckelt der Berg wieder: In Brienz GR musste das Dorf evakuiert werden. Gebannt wartet das ganze Tal, ob, wann und wie heftig der Berg runterkommt.
Ab einer Million Kubikmeter Gestein wird aus dem Felssturz ein Bergsturz. Das entspricht dem Volumen von 1000 bis 2000 Einfamilienhäusern. Ein Blick in die schlimmsten und aufsehenerregendsten Bergstürze in den Schweizer Alpen:
Der Jüngste
Es ist keine sechs Jahre her, als an die vier Millionen Kubikmeter Gestein am bündnerischen Piz Cengalo ins Val Bondasca donnerten. Am Morgen des 23. August 2017 löste dieser Bergsturz nur Minuten später mehrere Murgänge aus und verwüstete das Dorf. Die Schadensbilanz ist enorm und beträgt rund 41 Millionen Franken.
Dank eines Frühwarnsystems konnte sich die Bevölkerung von Bondo rechtzeitig in Sicherheit bringen. Weniger Glück hatten acht Wanderer, die im Val Bondasca unterwegs waren: Sie wurden vom Bergsturz überrascht und starben. Ein Denkmal auf dem Dorffriedhof erinnert an die tragisch Verunglückten, allesamt Auswärtige.
Anna Giacometti stand damals als Gemeindepräsidentin im Dauereinsatz: «Es waren heftige Tage, und diese Erinnerungen kommen jetzt mit der Evakuation von Brienz natürlich wieder hoch.» Es sei schwierig und belastend, wenn man das eigene Heim verlassen müsse und einen die Ungewissheit plage: «Insbesondere Leute, die damals innert Sekunden ihr Hab und Gut verloren haben, sind heute noch traumatisiert.» Es dauerte 52 Tage, bis die ersten evakuierten Bewohnerinnen und Bewohner wieder in ihre Häuser zurückkehren konnten. (Mehr dazu: Mit diesen Hightech-Systemen wird der Felshang über Brienz überwacht»)
Es sei damals die Zeit der Umarmungen gewesen in Bondo, man habe das Schicksal als Gemeinschaft getragen. Giacometti sagt aber auch: «Wir sind Bergler und kennen solche Naturkatastrophen.» Auch das Haus ihrer Urgrossmutter sei durch eine verheerende Überschwemmung zerstört worden, und sie habe mit dem Verlust leben müssen.
Der Verheerende
Innerhalb kürzester Zeit stürzten 40 Millionen Kubikmeter Felsbrocken und Gestein ins Tal. Die drei Dörfer Röthen, Goldau und Buosingen im Kanton Schwyz wurden 1806 fast vollständig vernichtet. Die Felsmassen lösten im Lauerzersee eine riesige Sturzwelle aus. Der Talarzt und Chronist Karl Zay notierte damals in seinem «Schuttbuch»: «Getöse, Krachen und Geprassel erfüllt die Luft wie tief brüllender Donner, erschüttert jedes lebende Ohr und Herz und tönt im Widerhall von tausend Bergklüften.»
Die traurige Bilanz dieses Bergsturzes: über 450 Tote. Ein Grund für die hohe Opferzahl war die ausgebliebene Evakuation, obwohl sich am Rossberg schon in den Tagen zuvor Steinmassen lösten, ins Tal donnerten und erste Häuser und Ställe zerschmetterten. Viele Tote wurden für immer unter den Schuttmassen begraben.
Für fast immer. Dem Bauunternehmer und Freizeitgeologen Thomas Reichlin gelang 2015 ein Sensationsfund. Dank seiner Ortskenntnisse konnten drei Skelette geborgen werden, welche die Uni Zürich dem Bergsturz zuordnete. «Diese Tragödie ist vor allem bei den alteingesessenen Goldauern schon noch präsent», sagt Reichlin. Würde er in Brienz leben, hätte er schon lange das Weite gesucht. (Reportage aus Brienz: «Jetzt kommt alles, was ich hier erlebt habe, nochmals hoch»)
Auch in Goldau ist der Berg nicht ganz zur Ruhe gekommen. Reichlin erinnert sich an die Vorbereitungen für den 200-Jahr-Bergsturz-Gedenkanlass im Jahr 2005: «Der Rossberg begann sich wieder zu bewegen, dieses Mal wurden die betroffenen Leute frühzeitig evakuiert.» Die Massnahme zahlte sich aus: 200’000 Kubikmeter Felsmaterial kamen ins Rutschen und zerstörten in Goldau ein Ferienhaus, im Dorf wurden Keller überflutet – aber Menschen kamen keine zu Schaden.
Der Spektakuläre
Vor 32 Jahren erschütterten gleich mehrere Bergstürze das Nikolaital und das Walliser Dorf Randa. Am 18. April 1991 donnerten 10 Millionen Kubikmeter auf den Weiler Lerch, die Kantonsstrasse und das Bahntrassee wurden verschüttet. Am 9. Mai dann der grosse Wumms: Der Abbruch von über 20 Millionen Kubikmeter deckte Randa vollständig mit Staub ein. Selbst Täsch und Zermatt waren nur noch per Helikopter erreichbar.
Die Gegend glich für Tage einer unwirklichen Mondlandschaft, und auch deshalb gilt dieser Bergsturz als einer der spektakulärsten der neueren Zeit. Wie eindrücklich sich die Situation vor Ort präsentierte, zeigt ein Beitrag des Schweizer Fernsehens (siehe Video unten). Als wäre das nicht genug, suchten in diesem Sommer gleich zwei Überschwemmungen das Dorf heim. Trotz der gewaltigen Menge abbrechender Felsmassen wurde niemand verletzt.
«Das Dorf sieht aus wie mit Lehm überpinselt. Alles ist grau in grau. Wirkt tot.» Diese bewegenden Eindrücke gab Gemeindepräsident Daniel Roten gegenüber dem «Walliser Boten» zu Protokoll. Noch heute ist die Erinnerung bei Roten lebendig: «Der Krach am 18. April war ohrenbetäubend, der Staub und Dreck waren schlimm.» So schlimm, dass eine Zeit lang die Kinder nur mit Masken das Haus verlassen durften, das Gras beim Heuen den ganzen Sommer hindurch staubte.
So kompliziert die Schweiz manchmal sei, sagt Roten: Wenn es einem wirklich dreckig gehe, dann erfahre man eine grosse Anteilnahme und schnelle Hilfe. Jetzt hofft er, dass die Brienzerinnen und Brienzer glimpflich davonkommen und ihre Häuser stehen bleiben: «Hoffentlich hatten sie genug Zeit, um ihre Hochzeitsfotos oder Kinderzeichnungen in Sicherheit zu bringen.» Denn solche emotionalen Erinnerungsstücke seien nie mehr zu ersetzen.
Der Grösste
Es ist der bisher grösste bekannte Bergsturz in der Schweiz und wohl auch in ganz Europa: der Flimser Bergsturz in Graubünden. Vor gut 9000 Jahren, nach der letzten Eiszeit, lösten sich zwischen neun und zwölf Milliarden Kubikmeter Kalkfels (ein mehrfaches des Volumens des gesamten freistehenden Matterhorns), stürzten in die Tiefe und schütteten den Rhein zu. Es kam zu einer gewaltigen Stauung, sodass sich der grösste der gebildeten Seen seinen eigenen Abfluss schuf. Auf der Website der Gemeinde ist dazu Folgendes nachzulesen: «So können wir heute die einzigartige Rheinschlucht mit ihren weissen, steilen und bizarren Kalkwänden und den sich windenden Fluss bewundern.»
In dieser Region kommt es immer wieder zu kleineren oder grösseren Abbrüchen: Am 10. April 1939 richtete ein Felssturz oberhalb von Flims beträchtlichen Schaden an: Rund 100’000 Kubikmeter zerstörten nicht nur fast zehn Hektaren Wald, auch das ausserhalb von Fidaz gelegene Kinderheim Sunnahüsli wurde ein Opfer der Steinmassen: 13 Kinder und 5 Erwachsene fanden dort den Tod.
Gerade in der Gegend rund um Fidaz bestehe heute noch ein gewisses Gefährdungspotenzial, sagt Jürg Caprez. Kleine Felsblöcke würden sich immer wieder loslösen. Der Flimser Gemeinderat ist auch Präsident der «Vereinigung Flimser Bergsturz», die die Forschung rund um das Thema grosse Bergstürze fördert.
Er zeigt sich nicht überrascht über die Entwicklung in Brienz. «Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung der brutalen Realität ins Auge sehen musste.» Denn das Dorf sei nicht nur durch den aktuellen Bergsturz bedroht, Brienz rutsche seit Jahren permanent talwärts, und diese Entwicklung sei längerfristig nicht zu stoppen. Die Entvölkerung des Dorfes werde weitergehen, auch wenn dieses noch einmal verschont bleiben sollte: «Es zeichnet sich ein Abschied auf Raten ab.»
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