Literatur: Die Pest unter Stalin Die Angst hat jeden infiziert
Die russische Autorin und Dissidentin Ljudmila Ulitzkaja rekonstruiert einen Seuchenausbruch mitten im Staatsterror. Ein beängstigendes Bild einer Gesellschaft, die vom Terror krank gemacht wurde.

Ein Unfall in einem Versuchslabor im russischen Saratow. Pesterreger befallen den Forscher, der nichtsahnend nach Moskau fährt, um vor einem Kollegium des Volkskommissariats für Gesundheit zu referieren. Er geht ins Hotel, lässt sich rasieren, dann zeigen sich die ersten Symptome. Es geht rasend schnell, der Spitalarzt Sorin diagnostiziert Lungenpest, schliesst sich mit dem Forscher ein, lässt auch den Friseur noch holen, alle drei sind nach kurzer Zeit tot. Strikte Quarantäne über das Krankenhaus wird verhängt, die hektische Suche nach Kontaktpersonen beginnt: mitreisende Zugpassagiere, Hotelpersonal, Teilnehmer der Kollegiumssitzung. Was ist das – Corona 4.0? Nein, Lungenpest 1939.
Den geschilderten Ausbruch hat es tatsächlich gegeben. Der Vater einer Freundin von Ljudmila Ulitzkaja hat damals die Leichen obduziert. Sie hat den Fall 1978 literarisch in einem Filmskript verarbeitet und sich für einen Drehbuchkurs beworben. Aus dem Film ist nie etwas geworden. Aber Ulitzkaja, studierte Genetikerin, wurde eine bedeutende Schriftstellerin und mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet. Eine mutige Frau, die sich offen gegen das Herrschaftssystem von Putin positioniert und dafür einmal grüne Farbe ins Gesicht geschüttet bekam.
Isolierung durch totale Überwachung
Dass Stalins Terror, der 1939 wütete, eine ganz andere Nummer war, ist ihr natürlich klar. Und dass der allmächtige NKWD, dem die Geheimpolizei unterstand, den Pestausbruch damals schnell in den Griff bekam, ist die finstere Pointe ihres Skripts.
Perfektion und Totalität der Überwachung waren die Bedingungen, in kürzester Zeit alle «Verdächtigen» aufzuspüren und zu isolieren – verdächtig ausnahmsweise nicht der Sabotage oder der Spionage, sondern bloss, infiziert zu sein.
So effektiv die Massnahmen des Geheimdienstes waren – ganz ohne App, ganz analog mit Listen und Telefon –, so plump und brachial ging er vor. Die Quarantänepflichtigen holte er nachts aus dem Bett – das übliche Verfahren bei den Massenverhaftungen. Kein Wunder, dass es zu Missverständnissen und «Kollateralschäden» kommt: Ein Geheimdienstoffizier erschiesst sich aus Angst vor dem Folterkeller, die Frau eines Gesundheitsfunktionärs denunziert ihren Mann als Volksverräter.
«Schlechte Arbeit können wir nicht gebrauchen»
Auch Stalin – hier nur der «Sehr Mächtige Mann mit georgischem Akzent» genannt – reagiert auf die Lage nach Schema T wie Terror: Als er die Hilfe des Geheimdienstes genehmigen soll, faselt er nur von «bestrafen» und «liquidieren».
Den erfolgreichen Abschluss der Quarantäne – alle 83 Isolierten blieben ohne Symptome – kommentiert er mit: «Schlechte Arbeit können wir nicht gebrauchen.» Tatsächlich ist eine einzige Kontaktperson unauffindbar geblieben, irgendwo in Mittelasien. Der Überbringer der Nachricht wird den Erfolg wohl nicht lange überleben.
Jeder kann das nächste Opfer sein
Es ist ein tiefschwarzes Stück, das Ljudmila Ulitzkaja vor über 40 Jahren geschrieben, vergessen und jetzt beim Aufräumen wiedergefunden hat. In kurzen Szenen lässt sie Figur um Figur auftreten, derart das «exponentielle Wachstum» der möglichen Ansteckung nachbildend, und zeichnet ein beängstigendes Bild einer vom politischen Terror krank gemachten Gesellschaft. Panische Angst hat jeden infiziert, weil jeder das nächste Opfer sein kann, heute Nacht schon. Opfer jenes Geheimdienstes, der hier in absurder Verkehrung als Retter auftritt.
«Es war nur die Pest», kann der Bezirksarzt Kossel, als er wieder nach Hause darf, seiner Frau erleichtert sagen. Und mit der «flotten, triumphalen Marschmusik», die die letzte Szene unterlegt, als stamme sie aus einem ironisch lärmenden Finale von Schostakowitsch, setzt Ljudmila Ulitzkaja einen bitter sarkastischen Schlusspunkt.
Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. Szenario. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, München 2021. 112 S., ca. 23 Fr.
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