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Kanon der Quarantäne
Der Tod in Venedig

Thomas Mann in seinem Münchner Arbeitszimmer, wenige Jahre nachdem er die Novelle «Der Tod in Venedig» geschrieben hatte.
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Es ist nicht Corona oder ein anderes Virus, auch nicht die Pest, es ist die Cholera, die in Thomas Manns Novelle ihren grossen Auftritt hat. Aus Indien gekommen, dringt sie über die Mittelmeerhäfen nach Europa ein, auch nach Venedig, wohin sich der Schriftsteller Gustav von Aschenbach aus einer Schaffenskrise geflüchtet hat.

Es ist eine besonders gefährliche Variante, «Achtzig vom Hundert der Befallenen starben, und zwar auf entsetzliche Weise.» Dennoch verheimlichen die Behörden die Krankheit lange, aus Furcht vor den «gewaltigen Ausfällen, von denen im Fall der Panik und des Verrufs die Hotels, die Geschäfte, das ganze vielfältige Fremdengewerbe bedroht waren». Und so, «geleugnet und vertuscht, frass das Sterben in der Enge der Gässchen um sich».

Die Analogien zur Gegenwart sind so offensichtlich wie die Unterschiede, heute sind und handeln wir klüger. Für Thomas Mann ist die Seuche aber auch eine Metapher: für den Verfall und das Sich-Ergeben in ihn. «Der Tod in Venedig» ist eine Künstlernovelle, sie erzählt, wie sein Held, eigentlich schon immer kränkelnd, sich durch «Selbstzucht» und «Heroismus der Schwäche» ein grosses Werk nach dem anderen abgerungen hatte und zum Repräsentanten, Erzieher, Vorbild geworden war.

Die Verlockung des Zügellosen

In Venedig nun, im Bäderhotel am Lido, zerbröckelt die Haltung, schiesst das Verdrängte an die Oberfläche. Aschenbach verfällt der Schönheit in Gestalt eines «gottgleichen» polnischen Knaben, er macht sich lächerlich, indem er ihm überall hin folgt und sich von einem Coiffeur auf jung schminken lässt. Vor allem gibt er seine «Lebenslüge» der Selbstzucht auf, bekennt sich zur Liebe zum Chaos, zum Abgrund. «Seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs.» Todessymbole durchziehen den Text, im letzten Satz ist Aschenbach der Cholera erlegen.

Der Held ist, obwohl physiognomisch dem Komponisten Gustav Mahler nachgebildet, ein Selbstporträt des Autors, der hier die Spannung Bürger-Künstler, die Verlockung des Zügellosen und den Zwang zu «Sitte und Anstand» ein weiteres Mal durchspielt. Mann schrieb die Novelle 1911, nach einer Venedigreise. Die darin unübersehbare Homoerotik dürfte auch seiner jungen Ehefrau nicht verborgen geblieben sein. Aber anders als sein Held liess der Autor sie nicht die Herrschaft über ihn gewinnen. Er hatte sich, wie er an den «liederlicheren» Bruder Heinrich schrieb, «eine Verfassung gegeben». Das Lieblingswort seines Aschenbach mochte fortan weiter für ihn gelten – und gern auch in diesem Tagen für uns. Es lautet: «durchhalten».