Rassismus in LateinamerikaDer Tod eines Fünfjährigen wühlt Brasilien auf
Ein schwarzer Junge starb, weil eine weisse Frau nicht aufpasste – der «Fall Miguel» hat eine breite Rassismusdebatte ausgelöst.
Als die Haushaltshilfe Mirtes Renata Souza ihren fünfjährigen Sohn Miguel zur Arbeit mitbrachte, konnte sie nicht ahnen, dass er schon bald tot vor ihr auf dem Boden liegen würde. Wie fast alle Armen konnte es sich Souza trotz dem Ausbruch der Corona-Pandemie nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Also machte sie sich auf, um auch an diesem Tag für die reiche Sari Gaspar, die aus einer einflussreichen Familie kommt, zu kochen und zu putzen.
Weil wegen der Pandemie die Schulen geschlossen waren, wurde Souza von ihrem Sohn begleitet. Während sie den Hund ausführte, sollte ihre Chefin auf Miguel aufpassen. Aufnahmen der Sicherheitskameras, die schnell publik wurden, zeigen, wie Miguel in den Lift stieg. Zunächst sprach Gaspar noch mit ihm, wandte sich dann aber von ihm ab. Der Junge fuhr allein in den neunten Stock. Wahrscheinlich versuchte er dort, aus einem Fenster zu klettern, und realisierte nicht, wie gefährlich das war.
«Es gibt keine Entschuldigung»
Als Miguels Mutter mit dem Hund zurückkam, lag ihr Sohn tot vor dem grosszügigen Anwesen. Er war zuvor aus 35 Metern gestürzt und sofort gestorben. «Sie hat meinen Sohn grosser Gefahr ausgesetzt. Es gibt keine Entschuldigung», sagte Souza im brasilianischen Fernsehen.
Der Fall hat in Brasilien eine breite Rassismusdebatte ausgelöst. Mirtes Renata Souza ist dunkelhäutig. Sari Gaspar weiss. «Wäre das auch passiert, wenn mein Sohn und ich weiss wären?», fragte Souza nach dem Unfall. Sari Gaspar, die vorübergehend nach einer Kautionszahlung von 3000 Franken freikam, wurde zum Symbol einer reichen, weissen Oberschicht, die sich nicht um die Armen des Landes schert.
Diese Woche wurde bekannt, dass Sari Gaspar gemäss Anklage wegen fahrlässiger Tötung eine Strafe von vier bis zwölf Jahren droht. Gemäss ihrem Anwalt sagte sie aus, sie könne nicht für den Tod des Jungen verantwortlich gemacht werden. Trotzdem bat sie in einem öffentlichen Brief um Vergebung. Viele vergleichen den Fall Miguel mit dem Tod von George Floyd in den USA. Die beiden Fälle eint, dass sie zu einer Diskussion über einen tief verankerten Rassismus geführt haben.
Brasilien hat den Rassismus nicht aufgearbeitet
Brasilien sieht sich selber gerne als multiethnische Demokratie, in der die Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt und friedlich miteinander leben. Tatsächlich aber sind die Nachwehen der Sklaverei, um 1888 offiziell abgeschafft, immer noch spürbar. Gut die Hälfte der Bevölkerung hat afrikanische Wurzeln, in Machtpositionen in der Politik, Wirtschaft und Justiz sind Schwarze aber massiv untervertreten. Sie verdienen weniger, wohnen öfter in Slums und sind schlechter ausgebildet.
Das alles wird nach dem tragischen Tod von Miguel nicht nur diskutiert, es werden auch Taten gefordert. In São Paulo fordern Protestierende, die Statue von Borba Gato, einem weissen Sklavenhalter aus dem 17. Jahrhundert, zu entfernen. Auch gab es in Brasilien einen Namensstreit um ein Putzutensil, das durchaus vergleichbar ist mit der Schweizer Mohrenkopf-Debatte. Es ging um den Stahlschwamm «Krespinha», der erstmals in den 50er-Jahren zu kaufen war. Der Name leitet sich von «Cabelo crespo» – gekraustes Haar – ab. Für die schwarze Bevölkerung war das nicht länger akzeptabel. Nach einem Shitstorm nahm der Hersteller Bombril den Krespinha aus dem Sortiment.
In den sozialen Medien äusserten sich bei weitem nicht nur Schwarze über den Fall. Auch an den Demonstrationen sind auffallend viele Weisse. Es scheint, als ob der Tod des fünfjährigen Miguel auch in privilegierteren Schichten zu einem Umdenken geführt hat. Für Mirtes Souza ist das ein schwacher Trost: «Der Fall meines Sohnes wird nicht vergessen werden. Es wird Gerechtigkeit geübt werden müssen», sagte sie.
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