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Italiens Regierungskrise
Der Stimmenfischer im Palazzo Madama

«Ich bin der Regisseur»: Clemente Mastella, 73 Jahre alt, mehrfacher Ex-Minister und 40 Jahre lang Parlamentarier – hier in einer Aufnahme von 2008, als er Justizminister war. 
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Wenn Italiens Politik immer mal wieder den Eindruck einer Commedia dell’arte mit durchaus melodramatischen Momenten erweckt, hat das nicht unwesentlich mit Figuren wie Clemente Mastella zu tun. Der 73-jährige Christdemokrat, Bürgermeister von Benevento bei Neapel, sieht sich selbst als «Wanderer der Politik» – mal stand er links von der Mitte, mal rechts, je nach politischer Konjunktur und Opportunität.

Die italienische Presse nennt Mastella auch «re dei trasformisti», König der Wendehälse. Ein listiger Strippenzieher und Stimmenfischer hinter den Kulissen des Parlaments, ein Mehrheitsbeschaffer alter Schule. In diesen bewegten Tagen der Regierungskrise klingelte sein Telefon ständig. «Ich bin der Regisseur», sagte er einer Zeitung. «Ich handle fürs Wohl Italiens.»

Nun, vielleicht überschätzt er seine Rolle auch. Jedenfalls brachten die Manöver Mastellas und einiger weiterer Verhandler noch keine Gewissheit über den Ausgang der Krise. Giuseppe Conte, der amtierende Premier, will nach dem Bruch seines Alliierten Matteo Renzi von Italia Viva am Montag in der Abgeordnetenkammer und am Dienstag im Senat eine Rede halten und dann die Vertrauensfrage stellen. Hätte er keine Mehrheit mehr, wäre seine Regierung am Ende. Aber so weit kommt es wahrscheinlich nicht.

Bühne vieler memorabler Showdowns: Das Schicksal von Giuseppe Contes Regierung wird im Saal von Palazzo Madama entschieden, dem Palast des italienischen Senats. 

Im Palazzo Montecitorio, dem Abgeordnetenhaus, stellt die kleine Italia Viva 29 Vertreter. Die zwei Hauptpfeiler von Contes Koalition, die Cinque Stelle und die Sozialdemokraten vom Partito Democratico, sollten es zusammen mit geneigten Kreisen zu einer komfortablen Mehrheit bringen. Viel knapper wird es dagegen im Palazzo Madama werden, dem Palast der kleineren Kammer, Bühne vieler denkwürdiger Dramen in der Geschichte der Republik. Italia Viva verfügt da über 18 von insgesamt 320 Sitzen, inklusive jener der Senatoren auf Lebenszeit.

Stimmenthaltung als Friedenszeichen

Ohne Renzis Unterstützung fällt Contes Total auf etwa 150 Stimmen, das sind 11 Stimmen weniger als die absolute Mehrheit. Unmittelbar ist das nicht schlimm, denn bei der Abstimmung braucht er nur eine einfache Mehrheit. Ausserdem plant Renzi, sich mit seinen Senatoren der Stimme zu enthalten, was die Hürde für Conte weiter senken würde – eine Art Gesprächsangebot Renzis nach dem Bruch.

Die Frage aber ist, wie Regieren mit einer Stimme mehr auf Dauer gut gehen kann, gerade während der Pandemie mit allen Problemen und den fälligen Entscheidungen zum Recovery-Plan. Für gewisse wichtige Geschäfte ist nämlich auch im Senat eine absolute Mehrheit nötig. Conte will künftig möglichst ganz auf die Stimmen seines Rivalen Renzi verzichten können, weiss aber nicht, ob er sich das leisten kann. Er bräuchte dafür dringend neue Unterstützer, mindestens 18, die lieber nicht «Wendehälse» gerufen werden wollen, sondern eher «Verantwortungsvolle» oder «Erbauer».

««Wenn dich die Rechte bescheissen will, gehst du zur Linken. Wenn dich die Linke bescheisst, kehrst du zurück zur Rechten.»

Clemente Mastella über die «Ethik des Wanderers»

Hier kommen Mastella & Co. ins Spiel. In Italien gibt es keine Mandatspflicht für Parlamentarier, sie können so oft die Partei und das Lager wechseln, wie sie das wollen, so steht es im Artikel 67 der Verfassung. Sie nutzen dieses Recht rege. Am meisten Wankelmut gibt es im Zentrum, in der weit verstreuten Diaspora der verflossenen, einst übermächtigen Democrazia Cristiana. Mastella sitzt zwar persönlich nicht mehr im Parlament, er kennt die Christdemokraten aber alle persönlich. Seit seine Frau, Sandra Lonardo, 2018 in den Senat gewählt wurde, schaut er regelmässig vorbei, streift durch die Korridore, trinkt Kaffee in der «Buvette», die beides ist: Bar und Basar. Für ihn ist Kohärenz eine relative Kategorie.

Mastella war Arbeitsminister unter Silvio Berlusconi und später Justizminister unter Romano Prodi, dessen Nemesis. Geht eigentlich gar nicht, in Italien aber geht das. Für achteinhalb Legislaturperioden sass Mastella im Parlament, einem halben Dutzend Parteien gehörte er an. Die Maxime, die seine Karriere stützte, erklärte er neulich in einem Interview so: «Wenn dich die Rechte bescheissen will, gehst du zur Linken. Wenn dich die Linke bescheisst, kehrst du zurück zur Rechten. Das ist die Ethik des Wanderers.»

«Vielleicht ist es nicht mehr Liebe, aber zumindest ist es Mathematik.»

Matteo Renzi über seine Zentralität im Parlament

Mastella sprach nun auch mit Carlo Calenda, dem früheren Industrieminister und Chef der kleinen Partei Azione, die nur einen einzigen Senator stellt, und machte ihm für dessen Stimme ein unanständiges Angebot. Doch dummerweise ging Calenda damit an die Öffentlichkeit, mit einem Tweet. Es flogen danach böse Worte hin und her, obschon solche Geschäfte doch normalerweise still verhandelt werden. Auch andere Bezirzte winkten ab. Den Mehrheitsbeschaffern gelang es bisher nicht, Conte eine neue Basis zu legen.

Und so ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die neue Regierung auf Renzi angewiesen sein wird. In einem Interview bot sich der Florentiner schon halb triumphierend an: «Ohne Italia Viva gibt es keine Mehrheit», sagte er. «Vielleicht ist es nicht mehr Liebe, aber zumindest ist es Mathematik.»