Replik auf TA-ArtikelDer Rechtsstaat gilt auch für Rammstein
Ein Kollege fordert in dieser Zeitung eine Absage an die beiden Rammstein-Konzerte in Bern. Warum das rechtlich indiskutabel ist und in den Folgen unabsehbar. Eine Replik.
«Die Rammstein-Konzerte in Bern sollten abgesagt werden», titelte diese Zeitung in einer Polemik, welche sie am Donnerstag online stellte. Worauf man im Artikel über den Sänger der Band lesen konnte: «Selbstverständlich gilt für Till Lindemann die Unschuldsvermutung, solange kein Verfahren eingeleitet und er nicht rechtskräftig verurteilt ist.»
Das klingt eindeutig: Till Lindemann, dem seit letzter Woche von verschiedenen Frauen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, gilt so lange als unschuldig, als kein Gericht ihn für sein Verhalten verurteilt. Man muss das klarstellen, weil die «Süddeutsche Zeitung», der Fernsehsender WDR, der «Spiegel» und andere Medien dem ostdeutschen Sänger detaillierte Vorwürfe gemacht haben. So hätten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Lindemann ihm Frauen zugeführt, die sie aus der sogenannten «Row Zero»-Zone vor der Konzertbühne für die After-Party ausgewählt hätten. Danach sei es häufig zu Sex gekommen; selbst von K.-o.-Tropfen und Verletzungen ist die Rede.
Die Band reagierte, dementierte aber nicht
Die Band reagierte zuerst mit einem vagen, von Lindemanns Anwalt formulierten Dementi. Als sich die Vorwürfe auch von anderen Frauen häuften, gaben Rammstein über Instagram zu verstehen: «Die Vorwürfe haben uns alle sehr getroffen, und wir nehmen sie ausserordentlich ernst»; die Fans sollten sich bei ihren Shows «wohl und sicher» fühlen. Nach einem Dementi klingt das nicht. Aber es ist auch kein Zugeständnis.
Rechtfertigen solche einander widersprechenden Aussagen eine Absage der Schweizer Rammstein-Konzerte? Schon im letzten Jahr hatte die Gruppe das Zürcher Letzigrund-Stadion zweimal gefüllt. «Eine solche Absage hat nichts mit Cancel-Culture zu tun», schreibt der Autor dazu. Ja mit was denn sonst? Einen Anlass zu canceln, heisst, ihn zu verhindern. Zwar plädiert der Autor für eine Pause, so gesehen differenziert er durchaus.
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Doch die logistischen, rechtlichen und finanziellen Aspekten einer Absage sind weit komplexer, als man sich das vorstellen kann. Abgesehen vom unsympathischen Aspekt des Absagens an sich, das einer intellektuellen Kapitulation gleichkommt, scheint mir auch die Behauptung des Autors anmassend, ein Auftrittsverbot sei im Sinne der Band und ihrer Fans.
Denn als Konsument will ich selber entscheiden, wo ich hingehen will. Jedem steht frei, sein Rammstein-Ticket aus Protest weiterzuverkaufen und den Erlös einer Frauenorganisation zu überlassen.
Muss man jetzt Picasso abhängen?
Und vor allem: Denkt man diese Forderung konsequent zu Ende, müssten da nicht auch alle Picasso-Bilder von den Museen abgehängt werden? Die Debatte über seinen Umgang mit Frauen kam nach einer neuen Biografie wieder heftig auf. Denn der Maler nutzte diese ebenfalls systematisch aus. Den Beatles und den Stones flogen die Groupies nur so zu, und nicht alle von ihnen konnten Unterwerfung von Hingabe unterscheiden. Muss man jetzt die Platten der Beatles wieder verbrennen? Und welche Instanz soll dereinst über die Reinheit der Künstler richten? Und wo hörte ihr Mandat denn auf? So gesehen wirkt eine Absage an die Kultur auf Verdacht hin nicht nur unsouverän, sondern auch gefährlich.
Wem dieses Phänomen irgendwie bekannt vorkommt, wird sich an den Fall Woody Allen erinnern. Obwohl der Regisseur gerichtlich und zusätzlich von Fachgruppen der Psychologie und Psychiatrie vom Vorwurf freigesprochen wurde, er habe seine Stieftochter Dylan am 4. August 1992 in einem Estrich sexuell belästigt, werden ihm diese mutmasslichen zwanzig Minuten bis heute vorgehalten. Die Herausgabe seiner Autobiografie wurde verzögert, er konnte in den USA nicht mehr drehen, mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler gingen öffentlich auf Distanz. Der Ruf des 87-Jährigen ist ruiniert.
Eine solche Mentalität wollen wir in der Schweiz nicht. Wir reden in diesem Land, wir widersprechen einander, wir stimmen ab, wir verklagen, wir verurteilen. So wie es unsere Verfassung vorsieht.
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