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Proteste im Iran
Der neue Präsident steht vor gewaltigen Problemen

Grosse Versprechen: Ebrahim Raisi, Irans neuer Präsident. 
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Seine erste Wahlkampfrede Ende Mai widmete Irans neuer Präsident Ebrahim Raisi der massiven Wirtschaftskrise – dem Thema, das die meisten Menschen im Iran bewegt. Er versprach, binnen vier Jahren vier Millionen Jobs zu schaffen, vier Millionen Wohnungen zu bauen und der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zinsgünstige Kredite zu gewähren. Zudem kündigte er an, das Gesundheitswesens stärker zu subventionieren und die Mieten zu drücken.

Was der 60 Jahre alte Kleriker und Jurist allerdings nicht gross erklärte: wie er seine ambitionierten Pläne umsetzen und vor allem finanzieren will. Von expansiver Geldpolitik sprach er. Die Zentralbank soll also Geld drucken, um steigende Staatsausgaben zu finanzieren. Doch die Inflation von fast 40 Prozent frisst ohnehin schon die Gehälter auf.

Ein Land am Abgrund

Die Abwärtsspirale hat sich seither noch beschleunigt. Wenn der Hardliner an diesem Dienstag vom Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei in sein Amt eingeführt wird, übernimmt er das Land in einer Ballung akuter Krisen – sie nähren die ohnehin grosse Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die sich gegen das gesamte Regime richtet, und befeuern Proteste.

Die fünfte Corona-Welle wütet im Iran. Mit zuletzt mehr als 30’000 registrierten Neuinfektionen und offiziell 350 Toten pro Tag sind die Zahlen höher als je zuvor. Die scheidende Regierung von Präsident Hassan Rohani sah sich gezwungen, die Hauptstadt Teheran und andere Regionen in einen neuen Lockdown zu schicken und Geschäfte zu schliessen. Viele aber können es sich längst nicht mehr leisten, nicht zu arbeiten, und ignorieren die Anordnungen.

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Dazu kommen die Proteste gegen Wasserknappheit in der Provinz Khusestan, wo Hunderte Dörfer für Trinkwasser auf Tankwagen angewiesen sind, Felder und Plantagen verdorren und das Vieh verdurstet. Sie halten seit Mitte Juli unvermindert an. Auf Abhilfe ist frühestens mit Regen im späten Herbst zu hoffen, das räumt die Regierung ein. Der Iran durchlebt den trockensten und heissesten Sommer seit mehr al 50 Jahren.

Die Lage in Khusestan ist für das Regime doppelt heikel: dort liegen die wichtigsten Ölfelder und zwei Drittel der Gasvorkommen – die wichtigsten Devisenquellen. Dennoch gibt es viel Armut und Arbeitslosigkeit. Die schiitischen Araber, in Khusestan die Mehrheit, sehen sich von der Zentralregierung diskriminiert.

«Tod dem Diktator!»

Selbst der Oberste Führer Ali Khamenei hat zugestanden, dass man den Menschen in Khusestan die Proteste nicht vorwerfen könne, sondern sich ihrer Anliegen annehmen müsse. Dessen ungeachtet schickt das Regime Sondereinheiten der Polizei und der Revolutionsgarden, die scharf schiessen. Mindestens neun Menschen wurden bislang getötet, Hunderte verhaftet. Die Menschen skandieren: «Keine Angst, keine Angst, wir stehen alle zusammen!» und «Tod dem Diktator!» – gemeint ist Khamenei.

Eine konservative Wende, wie sie im Iran viele unter Raisi erwarten, könnte die Lage noch verschärfen. Denn die weitere Beschränkung gesellschaftlicher Freiheiten lehnen viele Iranerinnen und Iraner ab, vor allem die jungen. In den Jahrzehnten seiner Karriere in der Justiz hat Raisi sich überdies mit unerbittlicher Repression profiliert.

Die Legitimität des Regimes ist schwer beschädigt, nachdem der Wächterrat, ein von Khamenei kontrolliertes Gremium von Juristen und Klerikern, alle ernst zu nehmenden Gegenkandidaten Raisis von der Wahl ausgeschlossen hatte. Was ihn qualifizierte, ist weder politische Erfahrung noch Wirtschaftskompetenz, sondern vor allem ergebene ideologische Linientreue. Das wissen die Iraner.

Reaktionäre Agenda

Die Ultrakonservativen dominieren bereits das Parlament, wofür ebenfalls der Wächterrat gesorgt hatte, und nun auch die Regierung. Im Sicherheitsapparat und dem Büro des Obersten Führers haben sie seit jeher das Sagen. Doch bei der Präsidentenwahl gaben nur 48,5 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab – ein Absturz um 25 Prozentpunkte und die niedrigste Wahlbeteiligung seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979. Dessen ungeachtet versuchen sie nun, ihre reaktionäre gesellschaftspolitische Agenda durchzufechten.

Vor allem empören sich Millionen Iranerinnen und Iraner aber über ein geplantes Gesetz, das die Internetzensur radikal ausweiten und verschärfen sowie den Zugang zu sozialen Medien drastisch erschweren würde. Die Abgeordneten haben das Gesetz im Prinzip beschlossen, die Details sollen aber noch ausgearbeitet werden. Vorgesehen ist unter anderem, VPN-Dienste zu verbieten, die den Zugriff auf Internetseiten ermöglichen, die im Iran gesperrt sind. Ob populäre Nachrichtendienste wie Whatsapp oder die Plattform Instagram gesperrt werden, ist noch umstritten. Die Proteste gegen das Gesetz sind heftig.

Schon gibt es Spekulationen, dass Raisi das Gesetz stoppen werde, um seine Popularität aufzupolieren. Denn die Wirtschaftsmisere, Irans grösstes Problem, wird er auf die Schnelle nicht lindern können. Zwar reden die Hardliner einer Widerstandswirtschaft das Wort, die Iran abkoppelt vom Westen und immun machen soll gegen Sanktionen. Aber kurzfristig bleibt auch Raisi kaum eine Erfolg versprechende Alternative zu einem Deal mit den USA über die Rückkehr zum Atomabkommen. Das würde dem Iran weitgehende Erleichterungen bei den Sanktionen bringen und Zugriff auf dringend benötigte eingefrorene Guthaben im Ausland.