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Neues Strafverfahren in Moskau
Der nächste Versuch, Nawalny im Lager physisch zu vernichten

Systematische Menschenzerstörung: Abgemagert und in Häftlingskleidung wird Alexej Nawalny per Video im Gerichtssaal in Ufa zugeschaltet. 

Unwirklich wirkte das Gespräch zwischen den beiden Gefangenen, die sich da gegenseitig Mut zusprachen. Alexei Nawalny sollte als Zeuge im Verfahren gegen seine Mitstreiterin Lilija Tschanyschewa auftreten. Abgemagert und in Häftlingskleidung war der Oppositionelle per Video im Gerichtssaal in Ufa zugeschaltet. Dort hatte die Angeklagte Tschanyschewa früher sein Regionalbüro geleitet, wegen ihrer Verbindung zu Nawalny drohen ihr viele Jahre Straflager. Nawalny selbst sitzt eine neunjährige Haftstrafe ab, die bald noch deutlich länger werden dürfte. Am Mittwoch begann in Moskau ein neues Strafverfahren gegen ihn.

Kurz vor der Gerichtssitzung vergangene Woche in Ufa konnten die beiden Oppositionellen wenige Minuten miteinander reden. Die Aufnahmen, die die Nachrichtenseite Mediazona veröffentlichte, zeigen den Bildschirm mit Nawalny, Tschanyschewa ist nur zu hören: Sie mache sich Sorgen um Nawalnys Gesundheit, sagt sie. «Denk nicht über mich nach», entgegnete er. «Ich bin froh, dich zu kennen. Ich bin stolz darauf.» Die beiden sprechen von einer besseren Zukunft für Russland, versichern einander, dass sie diese gemeinsam erreichen können. «Wir brauchen dich», sagt Tschanyschewa irgendwann. «Also bitte tu alles, um möglichst am Leben zu bleiben.»

Neue Strafen und Schikanen

Keine leichte Aufgabe für den russischen Oppositionellen in der Strafkolonie 6 in Melechowo, mehr als 250 Kilometer östlich von Moskau. Dort denkt sich die Gefängnisleitung immer neue Strafen und Schikanen für Nawalny aus. Er dürfe jetzt etwa nur noch früh morgens nach draussen, wenn es keine Sonne gibt, schrieb er kürzlich, seine Anwälte veröffentlichen Nawalnys Nachrichten auf Instagram und Telegram. Sie liessen ihn nur noch begrenzt Essen kaufen, und die freie Zeit, in der er Briefe schreiben konnte, habe man ihm gestrichen. Bereits 13 Mal musste Nawalny in eine besondere Strafzelle, die besonders eng und spartanisch eingerichtet ist. Maximal 15 Tage am Stück dürfen Häftlinge dort eingesperrt werden, doch für Nawalny reiht sich eine Strafhaft an die nächste.

Einzelhaftstrafe nach Einzelhaftstrafe: Alexei Nawalny vor Gericht in Moskau (2021).

Vor zwei Wochen kam er so geschwächt aus dieser Zelle, dass Rettungssanitäter gerufen werden mussten, schrieb Nawalnys Anwalt Wadim Kobsew auf Twitter. In 15 Tagen habe er acht Kilogramm verloren, über Magenschmerzen geklagt. Die Frage, was ihm fehle, beantwortet der Gefängnisarzt nur ausweichend. Angesichts der «sehr merkwürdigen Situation um Nawalnys Gesundheit», schrieb Anwalt Kobsew, «können wir nicht ausschliessen», dass er einfach «etwas vergiftet wird», also stückchenweise, damit sich sein Zustand nicht zu abrupt, sondern «allmählich, aber stetig verschlechtert». Der Anwalt forderte toxikologische und radiologische Untersuchungen. Stattdessen musste Nawalny kurz darauf wieder in die Strafzelle. Selbst seine Arbeitszeit verbringe er jetzt in Isolation, schrieb der Häftling, dafür habe man ihm eine Nähmaschine in eine Extra-Zelle gestellt, in der nun sitzen und nähen müsse.

In «völlig tierischem Zustand»

Doch nicht immer bleibt Nawalny während seiner Strafe allein. Als er kürzlich von seiner «Arbeitszelle» in die Strafzelle gebracht wurde, wartete dort ein alter Bekannter. Nawalny nennt ihn den «Obdachlosen», ein Häftling, der sich nicht wäscht, dem in der Vergangenheit mitunter Hygieneartikel vorenthalten wurden, bevor er zu Nawalny verlegt wurde. Bereits vor Monaten hat Nawalny beschrieben, wie er den Mann zum Waschen und Zähneputzen gebracht hat, ihm Waschpulver für seine Kleidung gab, Seife für die Hände. Nun sei dieser Häftling wieder in «völlig tierischem Zustand» in Nawalnys enge Strafzelle gesperrt worden, schrieb der Anwalt. Darin habe es so furchtbar gestunken, dass Nawalny nicht hineingehen wollte.

In eine Überwachungskamera habe Nawalny gesagt, dass dies eine gezielte Provokation gegen ihn sei. Offenbar wollte die Gefängnisleitung ihn dazu bringen, die Beherrschung zu verlieren. Es dauerte nicht lange, bis Gefängniswärter in schweren Helmen und Schutzwesten Nawalny gewaltsam in die Zelle zerrten, einer rammte ihm sein Knie in die Seite, laut Anwalt hat die Kamera alles gefilmt. Nawalny habe den ungewollten Zellennachbarn dann zum Zellenausgang gezogen – woraufhin die Wächter den Oppositionellen an die Wand drückten. Später liess man Nawalny wissen, dass ein weiteres Strafverfahren gegen ihn eingeleitet werde, weil er sich widersetzt hatte. Die Zahl der angeblichen Vorwürfe gegen ihn ist bereits zweistellig.

«Schick, oder?»

Heute Mittwoch findet zunächst die erste Anhörung in einem anderen Prozess gegen Nawalny statt – ein «grosses neues Strafverfahren», schrieb Iwan Schdanow, Leiter von Nawalnys Anti-Korruptionsfonds, auf Twitter. Eröffnet wurde es im Oktober, laut Nawalny soll er angeblich zu Terrorismus aufgerufen, Extremismus finanziert und den Nationalsozialismus gerechtfertigt haben. «Schick, oder?», schrieb der Oppositionelle sarkastisch auf Twitter. «Nicht viele Kriminelle haben draussen so viel angerichtet wie ich hinter Gittern.» Er rechnete damals mit 30 weiteren Jahren Straflager, seine Mitstreiter befürchten sogar noch mehr.