Football-Held aus dem NichtsDer Mann, den keiner wollte
Brock Purdy hätte den Sprung in die NFL beinahe verpasst, jetzt gewinnt er jedes Spiel: Der Quarterback lässt die San Francisco 49ers in seiner ersten Saison von Grossem träumen.
«Mr. Irrelevant»: So wird im American Football etwas despektierlich derjenige Spieler betitelt, der im Draft der National Football League – wo Universitäts-Athleten zu Profis gemacht werden – als Letztes ausgewählt wird. 262 Spieler erfüllten sich im April 2022 den Traum vom Profi-Geschäft. Spieler Nummer 262 – Mr. Irrelevant – war ein gewisser Brock Purdy. Keiner gab dem jungen Mann eine Chance, ehe die San Francisco 49ers im Draft den Quarterback von der Iowa State University dann verpflichteten, als die Verantwortlichen aller anderen Vereine schon beim Feierabendbier sassen.
Nun ist es so, dass der Mr. Irrelevant seinen Beinamen üblicherweise nicht zu Unrecht erhält. Selten schaffte er den Sprung ins finale Kader. Und wenn doch, war er noch nie derjenige, der in den Medien die Schlagzeilen dominierte. Brock Purdy jedoch tut derzeit genau dies.
Montana sah es kommen
Hinter dem jungen Trey Lance und Routinier Jimmy Garoppolo startete Purdy die Saison zunächst als drittes Glied auf seiner Position. Niemand hatte damit gerechnet, dass er überhaupt Einsatzminuten erhalten würde. Wahrscheinlich nicht mal er selbst.
Doch das Schicksal meinte es gut mit ihm: Lance schied aufgrund einer Knöchelverletzung bereits am zweiten Spieltag der regulären Saison aus, Ersatzmann Garoppolo erwischte es in Woche 13 gegen die Miami Dolphins am Fuss. Man musste kein Experte sein, um die Titelansprüche der 49ers mit Garoppolos Ausscheiden für beendet zu erklären. Headcoach Kyle Shanahan blieb nichts anderes übrig, als Neuling Purdy ins kalte Wasser zu werfen.
Es bedeutete jedoch den Anfang eines Laufs, den sich niemand so richtig erklären kann. Purdy lieferte, gewann das Spiel gegen die Dolphins. 49ers-Legende Joe Montana war nach der Partie so begeistert, dass er sich zu der Aussage hinreissen liess, dass Purdy seine Franchise zum Sieg in der Superbowl führen kann. Damals noch belächelt, scheint Montanas Aussage derzeit immer wahrscheinlicher. Unter Purdys Regie gewannen die Niners jedes Spiel, inklusive ihres ersten Playoff-Spiels am Wochenende gegen die Seattle Seahawks, die man mit 41:23 regelrecht deklassierte.
Der Quarterback ist die entscheidendste Figur im American Football, besonders Rookies (Spieler in ihrer ersten Saison) brauchen in der NFL in der Regel mindestens eine Saison, um sich an das Spiel auf höchster Ebene anzupassen. Nicht so Purdy. Der 23-Jährige spielt mit einer Ruhe und einer Souveränität wie sonst nur die besten und erfahrensten Spieler auf seiner Position. Einer davon ist Tom Brady, der wohl beste Quarterback der Geschichte.
Parallelen zu Brady
Diesen hat Purdy in seinem ersten Spiel in der Startaufstellung gegen die Tampa Bay Buccaneers gleich mal mit 35:7 in die Schranken gewiesen. Wenngleich das Playoff noch in vollem Gange ist, lassen sich bereits jetzt Parallelen zwischen dem Werdegang von Brady und Purdy ziehen, die nicht nur mit der Ähnlichkeit ihres Nachnamens zu tun haben. Auch Brady betrat die NFL 2000 als 199. Pick als Aussenseiter. Auch er rückte nur aufgrund einer Verletzung des damaligen Stammquarterbacks Drew Bledsoe bei den New England Patriots in die Startposition. Und auch er wusste sofort zu überzeugen – wobei sich Brady damals schon in seiner zweiten Saison befand.
Brady gewann auf Anhieb seine erste Superbowl. Davon ist Purdy noch weit entfernt. Im Playoff-Viertelfinal muss er zunächst die Dallas Cowboys ausschalten (Montag, 1.30 Uhr, Prosieben), damit seine Reise weitergeht. Doch die Titelhoffnungen in der Bay Area sind so gross wie schon lange nicht mehr. In ihrer Conference werden die 49ers auf statistischer Basis als Favorit für die Superbowl gehandelt, was nicht nur an Purdy liegt, sondern auch an den zahlreichen Waffen, die seine Offensive bestücken. Darüber hinaus verfügt San Francisco über die derzeit beste Defensive der NFL.
Purdy wäre der erste Rookie, der überhaupt in die Superbowl einzieht. Doch selbst wenn ihm dies nicht gelingt, hat er für eine dieser märchenhaften Geschichten gesorgt, die besonders die Amerikaner so lieben: diejenige des kleinen Underdogs, der zum Superstar wird, ohne dass ihm dies irgendeine Menschenseele zugetraut hätte. Und auch wenn es nicht zum Titel reichen sollte, hat Purdy sich in eine so hervorragende Position gespielt, dass man in San Francisco auch künftig auf ihn setzt und seine bedeutend teureren Konkurrenten aussortiert. «Irrelevant» ist Brock Purdy längst nicht mehr.
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