Interview zu Putins KriegGarri Kasparow sagt, Europa könne die Ukraine auch ohne die USA verteidigen
Die Ukraine-Verhandlungen zwischen Russland und den USA wecken beim russischen Oppositionellen düstere Erinnerungen. Die EU könne aber noch reagieren. Von der Schweiz ist er enttäuscht.

Es läuft schlecht für die Ukraine. In Riad haben sich die Aussenminister der USA und Russlands getroffen, Gespräche zwischen Wladimir Putin und Donald Trump sollen folgen. Die ukrainische Regierung und die EU-Staaten bleiben aussen vor. Im Interview spricht dazu Garri Kasparow, einer der führenden russischen Dissidenten im Exil. Die EU-Staaten müssten jetzt aufwachen, denn ein Diktatfrieden bedrohe Europa, sagt der frühere Schachweltmeister am Rand des Geneva Summit of Human Rights and Democracy.
Die erste Runde der Gespräche in Saudiarabien zwischen Russland und den USA ist zu Ende. Welche Ergebnisse erwarten Sie?
Die USA verhandeln, ohne genau zu wissen, worüber. Allein die Tatsache, dass sie über den Krieg sprechen, der Amerika nicht direkt betrifft, sagt alles. Die russische Seite feiert das. Es ist genau das, was Wladimir Putin wollte. Nun fordert Russland den Abzug der Nato-Truppen aus Osteuropa. Sollte Trump dem nachkommen, wäre es das Ende der Nato.
Hat Trump die Situation vollständig erfasst?
Ganz und gar nicht. Ich glaube nicht, dass Trump die Komplexität des Problems versteht. Die Leute um ihn herum haben zu viel Angst, ihm zu sagen, dass sein geopolitisches Wissen nicht ausreicht. Wir befinden uns in einer sehr unkonventionellen Situation. Moralische Fragen sind leider kein Thema mehr.
Was bedeutet das für Amerika?
Die USA werden bald erkennen, dass sie grosse Zugeständnisse machen müssen. Ob Trump einen Deal durchsetzen kann, ist ungewiss. Putin hingegen braucht Amerika, um die Sanktionen zu beenden.
Der russische Aussenminister Sergei Lawrow reiste am Montag nach Riad. Bald könnte Putin selbst Trump treffen.
Wenn ich die Bilder sehe, auf denen ein Krimineller wie Aussenminister Sergei Lawrow mit amerikanischen Beamten verhandelt – ohne Europäer und Ukrainer einzubeziehen –, weckt das düstere Erinnerungen. Es wirkt schlimmer als München 1938 oder Jalta 1945. Damals hatten die Diktatoren Hitler und Stalin die militärische Übermacht. Heute sprechen die Amerikaner mit einem Diktator, obwohl Russland nicht einmal einen Krieg gegen die Ukraine gewinnen konnte – ein Land, das nur begrenzte militärische und finanzielle Hilfe erhalten hat.

Das russische Verhandlungsteam in Saudiarabien bilden unter anderem Juri Uschakow und Kirill Dmitrijew, langjährige Putin-Vertraute, teils mit Verbindungen in die USA. Was bedeutet das für mögliche Verhandlungsergebnisse?
Wer verhandelt, ist unwichtig. Schon jetzt steht fest: Russland wird das Maximum fordern und keine Zugeständnisse machen. Die US-Verhandler berichten dem Oval Office. So einfach ist das. Wenn die US-Regierung Zugeständnisse machen will, bitte. Doch entscheidend bleibt, ob die Ukraine das Ergebnis akzeptiert – und wie Europa reagiert.
Was muss Europa jetzt tun?
Die Europäer brauchen einen Plan. Aus Paris kam zu Wochenbeginn wenig, ausser der Ankündigung, eine gewaltige Summe für die Ukraine bereitzustellen. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock nannte 700 Milliarden Euro. Auch wenn die Zahl überzogen wirkt, sprach sie von einer bisher unerreichten Grössenordnung. Das ist eine gute Nachricht, doch wie wir Europa kennen, wird es wohl lange dauern. Europa muss einen neuen Weg finden, um Entscheidungen zu treffen – keinen Konsens. Wir sind im Krieg. Hat Europa die notwendige innere Stärke? Ich weiss es nicht.
Sie sprachen Paris an, als gäbe es eine Allianz des Westens gegen die USA. Aber wir sehen, dass man sich uneins ist, Grossbritannien und Frankreich wollen Truppen in der Ukraine, Deutschland nicht.
Es ist sehr schwierig, aus dem Stadium der Unentschlossenheit buchstäblich historische Entscheidungen zu treffen. Die Europäische Union und die Nato haben sich wegen des Konsenses immer zurückgehalten. In der Nato hiess es immer: Wenn die USA nicht zustimmen, passiert nichts. Jetzt sind die Amerikaner nicht mehr da. Ich denke, dass sich die deutsche Position in einer Woche ändern wird. Friedrich Merz hat ganz andere Ansichten als Olaf Scholz. Die europäischen Staaten müssen einen Platz am Tisch einfordern. Jetzt sagt Russland: keine ausländischen Truppen in der Ukraine. Es wird aber ausländische Truppen in der Ukraine geben. Französische und britische Truppen.
Hat Europa denn die militärische Stärke, sich gegen Russland zu verteidigen?
Frankreich und Grossbritannien besitzen Atomwaffen. Sie reichen aus, um einen nuklearen Schutzschirm zu bilden. Das Baltikum ist nicht wehrlos: Estland hat 45’000 Soldaten und Reservisten, Lettland ebenso. Finnland, Schweden und Polen bringen zusammen eine halbe Million Soldaten auf. Ein konventioneller Krieg würde nicht in Tallinn enden, sondern in St. Petersburg.
Was macht Sie da so sicher?
Die Soldaten im Baltikum und in Skandinavien sind hoch motiviert, weil sie sich an russische Aggressionen und Völkermord erinnern. Esten, Letten, Schweden, Finnen – sie zögern nicht. Soldaten aus Polen und Rumänien stehen bereit. Europa wird nicht untergehen, auch wenn sich die USA zurückziehen.

In Saudiarabien verhandeln Putin und Trump ohne den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Was soll er tun?
Das ist eine schwierige Frage für mich. Als Russe fühle ich mich mitverantwortlich für das Geschehen in der Ukraine. Selenski steht vor grossen Herausforderungen, und ich stimme zu, dass er richtig handelte, als er zu Kriegsbeginn die untragbaren Angebote Russlands ablehnte. (2022 gab es Gespräche zwischen russischen und ukrainischen Vertretern unter anderem in Istanbul. Daraus resultierten russische Forderungen, die für die Ukraine inakzeptabel waren, da deren Erfüllung einer Kapitulation gleichgekommen wäre, Anm. der Red.). Was wir nach dem Treffen in Istanbul sahen: Der Preis ist hoch. Mehr Ukrainer starben. Man hätte diese Toten verhindern können. Wir sollten nicht nur über Donald Trumps Verantwortung sprechen, sondern auch über die der Biden-Regierung. Sie hat massgeblich dazu beigetragen, dass dieser Krieg so lange dauert.
Weshalb?
Joe Biden und CIA-Direktor William Burns zeigten feige Unentschlossenheit. Sie taten alles, um Russland vor einer demütigenden Niederlage zu bewahren. Beide gehören einer alten Generation an, die glaubt, die Welt ordne sich zwischen Washington, Moskau und Peking. Sie fürchten, dass ein geschwächtes Moskau Peking zu stark macht. Trump handelt ähnlich, er spricht es nur offen aus. Die Europäer akzeptierten diese Lügen. Die Ukraine hätte beim Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius 2023 Nato-Mitglied werden können, doch die Amerikaner blockierten das – die Deutschen übrigens auch. Scholz blickte stets auf die Amerikaner.
Die Schweiz ist sehr stolz auf ihre Ukraine-Diplomatie, den Bürgenstock-Gipfel und die Ukraine-Konferenz in Lugano. Sind die Verhandlungen in Saudiarabien auch eine Niederlage für die Schweizer Diplomatie?
Versuchen muss man es immer. Doch statt ständig Konferenzen abzuhalten, wäre es beeindruckender, wenn die Schweiz den Ukrainern den Zugang zu Waffen mit Schweizer Bauteilen erleichterte. Die Zukunft der Ukraine entscheidet sich nicht am Verhandlungstisch, sondern auf dem Schlachtfeld. Putin verhandelt nur, weil die ukrainische Armee weiterkämpft. Der Erfolg der Ukraine hängt nicht allein von der Tapferkeit ihrer Soldaten ab, sondern von den Waffen und der Technologie, die sie erhält – oder nicht. 70 bis 80 Prozent der Bauteile russischer Drohnen stammen aus dem Ausland, meist aus den USA. Auch Schweizer Technik steckt in russischen Waffen.
Putin rückt unterdessen nicht von seinen Maximalforderungen ab.
Die Russen wollen die Ukraine als Staat zerstören. Doch die Ukraine wird das nie hinnehmen, und Europa kann es nicht dulden. Wenn die Ukraine Russland unterliegt, verliert auch Europa an Einfluss. Das wäre seltsam, denn Europa bleibt eine bedeutende Wirtschaftsmacht und könnte eine militärische werden.

Trump nähert Amerika wieder Russland an.
Trump betrachtet internationale Beziehungen als Transaktionen und wittert dabei Chancen für Geschäfte. Zudem ändert Trump ständig seine Meinung, oft mehrmals am Tag. Spitzenbeamte in den USA prüfen regelmässig Social Media, um die aktuelle Linie zu kennen.
Würde ein Waffenstillstand langfristig Bestand haben?
In der Ukraine mag es dann vorübergehend ruhig sein. Doch selbst ein Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinie wäre nur eine Atempause. Zwei, drei, vielleicht vier Jahre Frieden – mehr nicht. Auf der einen Seite steht Putin, der stets den Krieg sucht. Auf der anderen die Ukrainer, die keinen Verlust hinnehmen. Keine Regierung in Kiew, weder Selenski noch ein Nachfolger, wird die Krim preisgeben. Eine Generation wächst heran, geprägt von der Sehnsucht nach Rückeroberung. Solange Putins Regime besteht, bleibt der Krieg. Er mag ruhen, doch er endet nicht. Denn die Ursache ist Putin selbst – seine imperialen Ziele, die nicht verschwinden. Sie allein sichern ihm die Macht.
Es scheint sehr wahrscheinlich, dass Russland ukrainische Gebiete dauerhaft annektieren wird. Was ist Putins Strategie danach?
Putins Ziel ist klar: Er will an der Macht bleiben. Mehr steckt nicht dahinter. Er hat weder Vision noch Strategie. Es geht nur ums Überleben: heute, morgen, jeden Tag. Der Krieg ist sein effektivstes Mittel, denn er hat Russland nichts anderes zu bieten. Die Wirtschaft stagniert, nur der Krieg hält sie am Laufen. Russland ist keine Industrienation, sondern eine Tankstelle.
Wird die russische Armee in andere Länder einmarschieren?
Putin wird wohl keine weiteren Länder frontal angreifen – so unklug ist er nicht. Doch er wird Truppen verschieben, drohen, Druck ausüben, Politiker kaufen. Er setzt den Krieg fort: auf dem Schlachtfeld, im Internet, in den Köpfen. Mit allen Mitteln, bis zu seinem letzten Tag im Amt. Der Krieg gegen die freie Welt ist Putins Vermächtnis. Deshalb kann er nicht enden.

Wo sehen Sie das Russland der Zukunft?
Das russische Reich muss verschwinden, und Russlands Zukunft liegt wohl nicht innerhalb seiner aktuellen Grenzen. Russland muss alle besetzten Gebiete zurückgeben, auch die Krim. Ein ukrainischer Sieg bedeutet für mich auch unseren Sieg. Ohne den Sieg der Ukraine gibt es keine Freiheit für Russland und kein Ende des Putin-Regimes. Jeder andere Ausgang, selbst ein Teilsieg, der Putin schwächt, wird Russland verändern. Wir wünschen uns einen Wandel in Russland, aber solange Putin an der Macht ist, herrscht Krieg, oder es droht einer. Ich lehne Gewalt ab, doch Russen, die in der Ukraine kämpfen und Verbrechen begehen, sind legitime Ziele der ukrainischen Armee.
Es gibt Spekulationen über Putins angeblich schlechte Gesundheit. Was halten Sie davon?
Solche Spekulationen bringen nichts. Putins Gesundheit zählt zu den bestgehüteten Geheimnissen Russlands. Ein Nachfolgeregime wird jedoch flexibler und kompromissbereiter handeln. Mehrere Akteure werden um die Macht ringen, Verhandlungen werden unvermeidlich. Ein Alleinherrscher wie Putin hingegen strebt nach Unbesiegbarkeit.
Das Interview wurde zusammen mit anderen Medien geführt.
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