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Porträt über Alain Berset
Der Bundespräsident ist angezählt

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«Die Zahnpasta ist aus», singt die fünfte Klasse vor dem Berntor in Murten. «Beim Frühstück hab ich mir meine Finger verbrannt. Ein Socken ist zerrissen.»

Alain Berset schaut vergnügt und gleichzeitig ernst zu. Ob das Kinderlied ihn an die vergangene Woche erinnert? An eine für ihn politisch schwarze Woche. 

Nur 140 Stimmen hat der 50-jährige Freiburger bei der Wahl zum Bundespräsidenten bekommen. Es ist das drittschlechteste Resultat seit der Jahrtausendwende (nur seine Vorgängerin Micheline Calmy-Rey schnitt zweimal schlechter ab). Und es ist ein Tiefschlag für jemanden, der ein Politikerleben lang Glanzresultate gewohnt war. Bei der ersten Bestätigung als SP-Bundesrat (2015) bekam er 210 Stimmen, 190 waren es bei der ersten Kür zum Bundespräsidenten (2017) und gar 214 bei der zweiten Bestätigung als Bundesrat (2019). 

Alain Berset begrüsst Schulkinder in Murten, am Donnerstag das erste Ziel seiner Präsidialfeier. 

Zur schwarzen Woche passte, dass niemand ausserhalb seiner Partei auf die Idee kam, dem Amtsältesten (und weiterhin dem Jüngsten) im Bundesrat bei der Departementsverteilung einen Wechsel zu ermöglichen. Berset darf weder das Finanz- noch das Aussendepartement übernehmen. 

Er muss im Innendepartement bleiben, wo er nach zehn Jahren bei weitem nicht erreicht hat, was er erreichen wollte – zumindest nicht in den beiden wichtigsten Dossiers, dem Gesundheitswesen und den Sozialversicherungen: Lange wuchsen die Krankenkassenprämien nur moderat. Doch nun geht es kräftig nach oben, und die Aussichten für 2024 sind düster. Mit seiner Grossreform «Altersvorsorge 2020» scheiterte Berset in einer Volksabstimmung. Immerhin brachte er im September 2022 eine vergleichsweise bescheidene AHV-Reform durch, die er aber contre cœur vertreten musste. 

«Sha-la-la-la», singen die Kinder an seiner Präsidialfeier vor der Murtner Stadtmauer. Gleich gibt es Punsch und Lebkuchen für alle. «Sha-la-la-la-la.»

Berset schreitet hinter der Stadtmusik durch Murten. 

Alain Berset lächelt. Bundesrat Ignazio Cassis ist gekommen, den er am 1. Januar ablöst als Bundespräsident. Seine politischen Freunde sind mit ihm durch das historische Städtchen geschritten, der sozialdemokratische Co-Präsident Cédric Wermuth und Vorgänger Christian Levrat, seine Familie, viel Lokalprominenz, alle hinter der Stadtmusik Murten, Berset hat schon ein Pferd gestreichelt des berittenen «Cadre Noir et Blanc Fribourg». 

Eine Streicheleinheit für das Pferd, ein kurzer Schwatz mit dem Reiter des «Cadre Noir et Blanc Fribourg» an Bersets Präsidialfeier.

Der Donnerstag ist nach der schwarzen Woche ein Freudentag für ihn und für den Kanton Freiburg, der seinen Bundespräsidenten empfängt und feiert – bereits das zweite Mal. 

Als Berset, fünf Jahre ist es her, erstmals den Bund präsidierte, erschienen Porträts, die vor Bewunderung trieften: «Monsieur Tausendsassa» betitelte ihn die «Aargauer Zeitung» in ihrem Text über das «Leben auf der Überholspur» eines «selbstbewussten Magistraten» («eloquent», «denkt blitzschnell», «liebt den staatsmännischen Auftritt»). «Alain Bersets Triumphzug» überschrieb die «Luzerner Zeitung» ihren Artikel, in dem sie prophezeite, dass der «brillante Rhetoriker» die Schweiz «hervorragend repräsentieren» und die Herausforderungen «mit Bravour» meistern werde. So kam es auch. Zu dieser verbreiteten Ansicht trug ein Bildband bei, der das Präsidialjahr mit den 19 (!) Auslandreisen ins rechte Licht rückte. 

Berset auf dem Rütli.

Berset macht ein Selfie mit der Musikkapelle während der Bundesfeier auf dem Rütli am 1. August 2018.

Berset und Trump.

Berset begrüsst US-Präsident Donald Trump 2018 am WEF in Davos.

Berset bei den Sumoringern.

Berset macht ein Selfie mit Sumoringern in Tokio. 

Berset in der UNO-Generalversammlung. 

Berset vor einer Rede am Sitz der Vereinten Nationen in New York. 

Doch zuletzt war weniger Weltpolitik, weniger Selfietime in der Ferne. Berset geriet in die Schlagzielen. Für einmal waren diese für ihn nicht sonderlich erfreulich.

Zuerst wurde durch die «Weltwoche» und einen Strafbefehl der Bundesanwaltschaft bekannt, dass eine ehemalige Geliebte versucht hatte, den Schweizer Innenminister zu erpressen. Er war Opfer, und sie, die junge Künstlerin, wurde verurteilt. Doch gab es im Strafverfahren Vorgänge, die für Kritik sorgten: So hatte der Anwalt des Innenministers ein Ferngutachten in Auftrag gegeben und eingereicht, in dem ein Psychiater bei der Frau eine Schizophrenie diagnostizierte. Damit liess er die Täterin potenziell gefährlicher erscheinen, als sie es war. 

Im Hochsommer 2022 holten dann französische Kampfflieger Alain Berset südlich von Paris vom Himmel. Der Hobbypilot war mit seiner Cessna in eine Flugverbotszone geflogen. Dabei hatte er seine Privatfliegerei geheim halten wollen. 

Wenig später machte der «Blick» publik, dass sich Berset privat erfolgreich gegen eine Mobilfunkantenne in der Nähe des Hauses seiner Familie in Belfaux bei Freiburg wehrte. Dabei brachte er auch gesundheitliche Bedenken wegen «schädlicher Auswirkungen auf Mensch und Tier» vor – während sein Bundesamt für Gesundheit seit Jahren versucht, mit dem Verweis auf Grenzwerte genau solche Bedenken zu entkräften. 

Trotz dieser Häufung von Affären blieben Rücktrittsforderungen selten. Berset zog es vor, zu schweigen – mit Verweis auf seine Privatsphäre. Auch aktuell mag er die Frage nicht beantworten, inwiefern die Affären und der gescheiterte Departementswechsel sein Präsidialjahr belasten. 

Negatives lässt sich leichter aussitzen, wenn man um Rückhalt in der Bevölkerung weiss. Eine Mehrheit findet die Affären offensichtlich viel weniger ein Problem als die politische Gegnerschaft. Vor allem aus der SVP würden einige Berset lieber heute als morgen weghaben. Denn gemäss Umfragen ist Berset nach wie vor der beliebteste Bundesrat. 

Berset posiert auf seiner Präsidialfeier mit Freiburger Jugendlichen. 

Einen Eindruck von seiner Popularität erhält man am Donnerstag beim Heimspiel in Murten. Berset ist hier nicht der Minister mit den Privataffären, sondern der Staatsmann, der die Schweiz durch die Corona-Krise führte. 

Murtens Stadtpräsidentin Petra Schlüchter erinnert in ihrer Ansprache daran, wie sie und Millionen andere im Land während des Lockdown gebannt mehrmals wöchentlich die Auftritte des Gesundheitsministers verfolgten: «Sie mussten Ihre persönlichen Ängste beiseiteschieben und mit Ihren Kolleginnen und Kollegen so sachlich wie möglich unter Einfluss aller Aspekte Entscheidungen treffen, die in das Leben aller Schweizer Einwohner eingriffen.»  

Das ist es, was geblieben ist. Berset war der Leader, der Corona-General.  Für die SVP hingegen war er der Corona-«Diktator». Für die einen war er Vorbild, für die anderen Feindbild. Einzelne hassten und bedrohten ihn sogar. Sogar seine Familie brauchte Polizeischutz. Noch diesen Sommer begleiteten ihn Leibwächter selbst beim Wandern in den Waadtländer Alpen. Auch in Murten haben sich auffällig viele breitschultrige Männer mit Knopf im Ohr unter die Menge gemischt. 

Wien, New York, Afrika

Bald will Berset wieder vermehrt im Bundesratsjet um die Welt fliegen. Zuerst soll es nach Wien gehen, dann bald einmal nach New York, wo die Schweiz ab Anfang Jahr im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sitzt. Und dann möchte Berset gemäss seinem Departement Länder bereisen, «die durch die indirekten Folgen der aktuellen Krisen (Pandemie, Ukraine-Krieg) stark belastet sind, aber nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen». Länder in Afrika zum Beispiel.

Verzichten muss er auf die treue Begleitung durch Peter Lauener. Bersets Krisensommer 2022 hatte mit der Verhaftung des Weggefährten und langjährigen Kommunikationschefs Lauener begonnen. Sonderermittler Peter Marti, der Datenlecks in der Bundesverwaltung untersucht, nahm den hohen Beamten sogar einige Tage lang fest. Inzwischen ist Lauener auf freiem Fuss, nicht mehr für Berset tätig, und er wehrt sich gegen die Vorwürfe.

Im Gegensatz zum Frankreich-Flug und zur nicht gebauten 5G-Antenne ist diese Affäre längst nicht ausgestanden. In der Strafuntersuchung Martis geht es hauptsächlich um Kontakte des Innendepartements zum Medienhaus Ringier («Blick», «Schweizer Illustrierte» etc.) während der Corona-Krise. 

Das Problem EBS

Inzwischen hat Berset eine Nachfolgerin für Lauener gefunden. Es ist eine ehemalige «Blick»-Bundeshausjournalistin. Und nun hat er sein erstes Interview als gewählter Bundespräsident gegeben – ausgerechnet dem «Blick» (Begründung: Dieser habe zuerst angefragt.). Die Affären werden weder in den Fragen der Interviewer noch in den Antworten des Interviewten auch nur erwähnt. Stattdessen erklärt Berset, dass er über sein Präsidialjahr hinaus Bundesrat bleiben will: «Ich bin noch voller Energie und habe Lust, weiterzumachen!»

Orte, um die Energie loszuwerden, gibt es viele – von der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Behandlungen über die verschleppte Digitalisierung im Gesundheitsbereich bis hin zu den Sozialversicherungen und der Reform der 2. Säule. 

Was die berufliche Zukunft betrifft, hat BRB – so das interne Kürzel von Bundesrat Berset – seit der schwarzen Vorwoche ein Problem: EBS. Mit der Wahl Elisabeth Baume-Schneiders sind zwei Welsche aus der SP im Bundesrat vertreten, der zudem eine lateinische Mehrheit hat. Das erhöht den Rücktrittsdruck auf Berset. 

Die Murtner Kinder singen davon, wie Musik all die Alltagssorgen vergessen lässt. Alain Berset steht vor die Klasse und macht mit ihr die Welle.

Dann tritt er ans Rednerpult und sagt: «Das war hervorragend, danke.»