Treffen mit Andreas MichalsenDer Arzt entwickelt alte Heilmethoden weiter
Andreas Michalsen behandelt Patienten mit Fastenkuren, empfiehlt Yoga und Meditationen und erforscht, ob die traditionellen Anwendungen erfolgreich sind.

Ein Händeschütteln gibt es natürlich nicht zur Begrüssung. Dafür ein freundliches Lächeln, erkennbar an den aufmerksamen Augen hinter der randlosen Brille. Der Rest des Gesichts von Andreas Michalsen verschwindet hinter einem hellblauen Mund-Nasen-Schutz. Ein Treffen zu Corona-Zeiten.
Dennoch ist der berühmte deutsche Ernährungsmediziner sofort wiederzuerkennen. Er sieht aus wie auf den Buchdeckeln seiner Bestseller «Heilen mit der Kraft der Natur» und «Mit Ernährung heilen», die 2017 und 2019 erschienen sind.
Diskussionen, ob Salat gesund ist
Starallüren hat er aber nicht, im Gegenteil. Es geht familiär zu, während er in der Privatklinik Bethanien in Zürich an der Eröffnung des Zentrums für Komplementärmedizin Jivita teilnimmt. Michalsen ist aus Berlin angereist. Er leitet dort am Immanuel-Krankenhaus die Abteilung Naturheilkunde und unterrichtet als Professor an der Charité-Universitätsmedizin. Hinzugekommen ist nun seine Funktion als wissenschaftlicher Fachbeirat bei Jivita.
«Beim Mittagessen haben wir uns über unseren Salat unterhalten», schmunzelt Michalsen vor den offiziellen Eröffnungsreden, in einem der mit warmem Holz und Wildblumen ausgestatteten Räume des Zentrums. Jivita setzt auf ganzheitliche Medizin. Der Fokus liegt auf Ayurveda, also traditionelle indische Heilkunst. «Gerichte, die auf Ayurveda basieren, enthalten viel Gemüse und Hülsenfrüchte. Sie werden schonend erwärmt und sind damit gut verdaulich», erklärt Michalsen. Das sei ein Gegensatz zur klassischen naturheilkundlichen Ernährung, die 50 Prozent Rohkost empfehle.
Deshalb also diskutierten die Fachleute über den Salat. Und was ist ist nun gesünder? Michalsen findet – wie so oft im Gespräch – einen Kompromiss: Gesunde Personen profitieren von Rohkost. Menschen, die zum Beispiel Darmprobleme haben oder an anderen Erkrankungen leiden, könnten schonend zubereitete pflanzliche Produkte helfen.
«Man muss die Tradition nicht streng eins zu eins übernehmen.»
Michalsen kennt sich gut aus mit traditionellem Heilwissen. Als Komplementärmediziner sei er viel in Indien gewesen, in China und den USA. Das seien die «Hotspots» für die Anwendungen und die Erforschung der traditionellen Medizin. Dogmatisch oder esoterisch ist der Arzt jedoch nicht. «Man muss die Tradition nicht streng eins zu eins übernehmen», sagt er. Die alten Heilmethoden möchte er mit seinen Kollegen neu definieren – auch in einer Forschungszusammenarbeit mit Marisa Hübner, der leitenden Ärztin von Jivita. «Dafür haben wir die Wissenschaft, dass wir die Methoden je nach Erkenntnissen modifizieren und anpassen.» Da gebe es doch dieses Sprichwort: «Man soll nicht die Asche anbeten, sondern das Feuer entfachen.»
Michalsen erforscht beispielsweise mit seinem Team in Berlin, ob eine ayurvedische Ernährung Beschwerden von Patienten mit Reizdarmsyndrom lindert, ob vegane, also auf pflanzlicher Kost basierende, Nahrung Rheumatikern hilft. Und immer wieder kommt er auf die Heilmethode zurück, die ihn bei Laien und in der Fachwelt berühmt gemacht hat: das Fasten.
13 bis 14 Stunden lang keine Kalorien
Michalsen selbst isst seine erste Mahlzeit erst gegen 11 Uhr, «meist ein Porridge aus Haferflocken mit Nüssen, Beeren und Mandelmilch», schwärmt er von der «gesunden und schmackhaften Kost». Oft hat er zuletzt am Nachmittag etwas zu sich genommen. Der Arzt praktiziert das sogenannte 16-zu-8-Intervallfasten, das heisst, er isst nur während acht Stunden am Tag etwas, 16 Stunden lang nimmt er keine Kalorien auf (lesen Sie hier, wie es Michalsen gelingt, zeitweilig auf Nahrung zu verzichten). «Es reichen aber meist schon 13 bis 14 Stunden aus, um die Effekte des Fastens anzukurbeln», sagt Michalsen. Die Theorie dahinter ist, dass der Körper während der Fastenzeit vermehrt Zellabfälle entsorgt, wobei er schadhafte Proteine und Zellbestandteile in einem Prozess, der Autophagie genannt wird, selbst verdaut, also aus dem Verkehr zieht (lesen Sie hier mehr darüber).
Die Daten aus der Grundlagenforschung seien vielversprechend, sagt Michalsen. Der Beweis aber, dass diese Prozesse bei Patienten genauso ablaufen, sei noch nicht endgültig erbracht. Das Berliner Team erforscht deshalb zusammen mit Kollegen aus Bonn, mit gesunden Personen, die fasten, ob in deren Zellen vermehrt Autophagie nachzuweisen ist.
Als junger Arzt hat er geraucht und überhaupt nicht darauf geachtet, was er isst und trinkt.
Michalsen propagiert auch das mehrtägige Heilfasten. «Dabei steht aber nicht das Abnehmen im Vordergrund.» Es gehe eher darum, eine Reset-Taste zu drücken, also um einen Neustart, sagt er. Das wäre dann der Zeitpunkt, sich auf eine gesunde Ernährung umzustellen. Er selbst hat den Prozess vor langen Jahren gemacht. Als junger Arzt, während er in der Notaufnahme arbeitete, hat er geraucht und überhaupt nicht darauf geachtet, was er isst und trinkt.
Die Ernährung ist aber nur ein Teil eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts, erklärte Michalsen später bei seiner Rede. Dabei habe die Schulmedizin eine wichtige Rolle bei der Akutbehandlung. Naturheilverfahren und Lebensstiländerungen seien hingegen bei der Prävention oder zur Behandlung von chronischen Erkrankungen hilfreich, etwa bei Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Herz-Gefäss-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 oder entzündlichen Erkrankungen wie Rheuma.
Yoga war ursprünglich gedacht, um in verschiedenen Meditationspositionen verharren zu können.
Michalsen empfiehlt seinen Patienten zudem Methoden zur Stressbewältigung. Er selber macht Yoga. «Ich habe meine Yogamatte immer dabei», sagt er, auch im Büro. Da macht er die Tür dann mal zu, wenn er 20 Minuten entspannen will. Dabei sei Yoga ursprünglich nicht dazu gedacht, dass wir beweglich werden, sagt der Arzt. «Es diente dazu, dass wir es aushalten, in verschiedenen Meditationspostionen zu verharren.» Er meditiert auch regelmässig. «Ich spreche mir in Gedanken Mantras vor, einfache Wortfolgen.» So könne man sein Gehirn dazu bringen, sich zu fokussieren und nicht immer daran zu denken, was als Nächstes anstehe.
Auch das Beten eines Rosenkranzes ist Meditation
«Wem das Fernöstliche nicht liegt, kann sich natürlich auch anders entspannen», sagt Michalsen. «Dem einen liegen Waldspaziergänge mehr, die andere betet vielleicht den Rosenkranz, auch eine Art Mantra.»
Der Naturheilkundler strahlt tatsächlich innere Ruhe und Gelassenheit aus, lacht aber, als er verrät, dass es in seinem Alltag mit vier Kindern und einem strengen Arbeitspensum nicht immer entspannt zugehe. Die beiden kleineren Kinder sind vier und sechs Jahre alt, die Töchter aus erster Ehe 18 und 26. Der 59-jährige Vater erinnert sich lächelnd an das Aufbegehren seiner Ältesten: «Als Jugendliche fand sie das gesunde Essen in unserer Familie doof. Sie ass lieber Pommes und Ketchup.» Die Phase sei aber längst vorbei.
Keine Askese, sondern Lebensqualität
Eines möchte Michalsen noch betonen: Ein gesunder Lebensstil habe nichts mit Askese, also Verzicht, zu tun. Letztlich könne jeder für sich entscheiden, ob er oder sie bei chronischen Krankheiten täglich Tabletten einnehmen möchte, bei massivem Übergewicht vielleicht Rückenschmerzen bekomme oder künstliche Gelenke benötige. Wer hingegen seinen Lebensstil ändert, bekomme auch etwas dafür: Lebensqualität.
Dazu gehört übrigens auch eine bessere Körperabwehr zum Beispiel gegen Viren. Der Arzt weist jedoch darauf hin: Die üblichen Corona-Massnahmen gelten natürlich trotzdem: Abstand halten, Händewaschen, Maskentragen – auch bei einem Interview.
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