Ausverkauf der KronjuwelenWarum ABB ausgerechnet das profitabelste Geschäft verkauft
Der neue Firmenchef Björn Rosengren will das Turbolader-Geschäft mit 800 Mitarbeitern in der Schweiz verkaufen. In Baden versteht das keiner. Das sind die Gründe für den überraschenden Entscheid.
Die ABB-Mitarbeiter in Baden verstehen die Welt nicht mehr. Ihre Division – das Turboladergeschäft, das grosse Schiffsmotoren effizienter macht – soll verkauft oder abgespalten werden. Nach knapp hundert Jahren unter dem Dach von ABB passt es nun nicht mehr zum Konzern. «Das macht für mich keinen Sinn», sagt ein Beschäftigter auf dem Weg in die Mittagspause. Am Morgen hatte er von den Plänen erfahren. «ABB ist führend in dem Bereich am Weltmarkt, wir sind die Nummer eins», sagt er und macht ein ratloses Gesicht. So wie ihm geht es wohl vielen der 800 Beschäftigten der Sparte in der Schweiz.
Die Ankündigung des neuen Firmenchefs Björn Rosengren am Donnerstagmorgen war für sie ein Schock. Der Schwede will den Industriekonzern auf Wachstumskurs bringen und den Gewinn steigern. Um das zu erreichen, hat er den insgesamt 18 Divisionen des Konzerns strenge Vorgaben gesetzt. Wer sie nicht schafft, kommt auf die Verkaufsliste.
Doch das Turboladergeschäft, das offiziell Turbocharging heisst, gehört nicht in diese Kategorie der Sorgenkinder. Die Sparte wirft mehr Gewinn ab als der Durchschnitt der anderen Divisionen. Und als Weltmarktführer dürften auch die Wachstumsaussichten intakt sein. Warum also will Rosengren das Geschäft loswerden?
Die Gründe für den Entscheid
Zum einen passt das Turbocharging aus Sicht des Managements nicht mehr so recht zum Rest des Konzerns. ABB entwickelt sich weg vom traditionellen mechanischen Geschäft hin zu einem Softwarekonzern, der vom weltweiten Trend zur Digitalisierung profitieren will.
Zum anderen entspricht das Geschäft auf den ersten Blick nicht der neuen Nachhaltigkeitsstrategie, die sich Rosengren vorgenommen hat. Er will die eigene Produktion bis 2030 CO₂-neutral machen und den CO₂-Ausstoss auch bei Kunden und Lieferanten verringern. Eine Division, die auf Dieselmotoren spezialisiert ist, passt hier nicht ins Bild – auch wenn die Turbolader von ABB helfen, die Motoren für grosse Schiffe oder Lokomotiven effizienter zu machen. Die Technik an sich kommt nicht nur bei grossen Motoren zum Einsatz: Auch Autofahrer schätzen den Effekt des Turbos beim beherzten Tritt aufs Gaspedal. ABB hingegen ist auf grosse Anlagen spezialisiert.
Darüber hinaus könnte auch die Volatilität des Geschäfts eine Rolle gespielt haben. Wenn die Wirtschaft brummt und der Welthandel blüht, fahren viele Containerschiffe auf den Meeren, und die ABB-Einheit ist voll ausgelastet. Doch ist die Konjunktur – wie jetzt wegen der Corona-Krise – eher schwach, lassen grosse Aufträge auf sich warten. ABB baut die Turbolader nicht nur, sondern ist auch für den Service der Anlagen zuständig. Wenn ein grosses Schiff nicht mehr läuft, muss überall auf der Welt rasch ein Mitarbeiter von Turbocharging zur Stelle sein, um den Ausfall zu beheben. Denn jede Verzögerung kostet Geld. Rund drei Viertel der Umsätze von jährlich 800 Millionen Dollar stammen aus solchen Serviceleistungen.
Kommt Turbocharging an die Schweizer Börse?
Rosengrens bevorzugte Option für die Zukunft der Division ist nicht ein klassischer Verkauf an neue Investoren, sondern ein sogenannter Spin-off über die Schweizer Börse, wie er am Donnerstag deutlich machte. Details dazu nannte er nicht – doch es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten.
Bei einer klassischen Abspaltung würde Turbocharging einfach als separate Einheit an der Börse gelistet. Die Aktionäre von ABB bekommen die jungen Aktien des abgespaltenen Unternehmens ins Depot gebucht. Siemens hat das bereits vorgemacht bei der Abspaltung seiner Energiesparte. Ein Nachteil aus Sicht des Unternehmens ist dabei, dass es keinen Verkaufserlös gibt, den Rosengren in neue Zukaufsziele stecken könnte.
Bei einem Börsengang würde ABB die jungen Aktien der Turbocharging nicht einfach verschenken, sondern sie an Investoren verkaufen. Analysten schätzen den Wert der Sparte auf über zwei Milliarden Dollar.
Ein schmerzlicher Entscheid für ABB Schweiz
In jedem Fall dürfte die heutige Turbocharging bei einer Zukunft als eigenständiges Unternehmen weitgehend erhalten bleiben – und damit auch die Arbeitsplätze in der Schweiz. Bei einem Verkauf an einen Konkurrenten wären nach Einschätzung von Experten hingegen Jobs gefährdet. Dieses Schicksal hat bereits andere Branchen ereilt, von denen sich ABB getrennt hat, wie die Kraftwerksparte oder Teile des Bahngeschäfts.
Das verbleibende Schweiz-Geschäft des Konzerns schrumpft mit dem Entscheid zur Trennung von Turbocharging hingegen weiter. «Das ist ein wesentlicher Teil der Mitarbeiter und ein bedeutendes Geschäftsvolumen. Das ist ein weiterer Aderlass für ABB Schweiz», sagt ein Firmenkenner. Die Zahl der Beschäftigten würde damit in der Schweiz auf 3700 sinken. Andere Industriefirmen wie Siemens oder Stadler Rail beschäftigen hierzulande deutlich mehr Leute. Und das Unternehmen war jahrzehntelang stolz auf die Turbolader-Technologie aus dem eigenen Haus, wie der Imagefilm aus dem Jubiläumsjahr 2015 zeigt.
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