Nachruf auf Andrew FletcherDepeche Mode verliert seinen Helden an der Seitenlinie
Der verstorbene Keyboarder war der Kitt, der das ewig labile Bandgebilde der Briten zusammengehalten hatte.

Man muss sich das Leben an der Seitenlinie bitte für einen Moment als das vorstellen, was es ist: enorm erfüllend. Der eigentliche Premiumplatz in einer Band. Doch, doch. Die anderen Jobs haben die viel hässlicheren Tücken. Der Frontmann / die Frontfrau: immer dieses Überlebensgrosse. Immer diese Wahnsinnsshow, ganz egal, ob man sich gerade nach Wahnsinnsshow fühlt oder nach Verstecken. Ganz egal auch, ob man versteht, dass die Wahnsinnsshow nach dem Konzert enden sollte. Dass man sie, wenn man leben möchte, im Hotel vor der Zimmertür besser abgibt. Der Songwriter / die Songwriterin: auch riesiger Druck. Ewiggrosser, zerfieselnder Kampf mit der Kreativität, diesem launischen Wesen. Auch erfüllend, wenn man ihn gewinnt. Aber man gewinnt ihn ja nicht oft.
Man sollte also versuchen – so schwer das fällt in diesen Stunden nach der Nachricht seines Todes, der die Zukunft des 100-Millionen-Alben-grossen Monsters Depeche Mode doch wenigstens fragwürdig macht –, sich Andrew Fletcher als sehr zufriedenen Menschen vorzustellen.
Man unterschätze nicht die Kraft eines kühlen Biers.
«Fletch», so schrieb die Band das ins Social Web, als sie den Tod des Freundes, des Kollegen, des Künstlers verkündete, «hatte ein wahres Herz aus Gold und war immer da, wenn man Unterstützung, ein lebhaftes Gespräch, ein gutes Lachen oder ein kühles Bier brauchte.»
Ein seltsam kleinmachender Satz auf den ersten Blick. Klingt, aus künstlerischer Sicht, ein wenig nach Wasserträger. Nicht nach einem Mann, der als Gründungsmitglied und Keyboarder der wohl auf ewig grössten Keyboardband dieser Welt den glaskalten und trotzdem ja zum Reinflauschen warmen Sound mitgeprägt hat, den sie im Kielwasser der Achtzigerjahre alle imitiert haben. Die meisten schlechter.
Man unterschätze aber, bitte, nicht die Kraft eines kühlen Biers im richtigen Moment.
Er sammelte die Checks ein
Die Arbeitsteilung also. Das Business-Fachblatt «Rolling Stone» hat sie für Depeche Mode einmal so zusammengefasst: «Martin Gore writes the songs, Dave Gahan sings them and Andy Fletcher shows up for photo shoots and cashes the checks.» Gore schreibt die Songs. Gahan singt sie. Fletcher stellt sich mit aufs Foto und sammelt die Schecks ein.
Auftritt Andrew Fletcher. Geboren 1961 im britischen Nottingham. 15 Jahre alt, als der Punk die Insel erzittern liess – «das beste Alter, um so etwas zu erleben. Wir hatten wirklich Glück», wie er das selbst sagte. Siouxsie and the Banshees waren ein Einfluss für ihn. The Cure, Kraftwerk, die frühen Human League. Daraus baute er sich seinen Sound zusammen, dieses trockeneis-geile Computerstrahlen, das so gut passte zu Gores stadiongrossen Melodien und Gahans Gesang. «Personal Jesus», «Enjoy The Silence», «People Are People», «It's No Good» – die Grössten. «Fly On The Windscreen», «Useless», «Soothe My Soul» – die, vor allem was die Instrumentals betrifft, womöglich Unterschätztesten.
Zuerst war Fletcher Bassist in der Band No Romance in China, gegründet mit Vince Clarke, der später unter anderem Erasure gründen sollte. Als Martin Gore dazukam, nannte man sich kurzzeitig Composition of Sound. Ab 1980, mit Gahan, dann Depeche Mode.

Ein Quartett also ursprünglich. Als Clarke ausstieg, meldete sich Alan Wilder auf eine Anzeige im «Melody Maker». Ein klassisch am Klavier ausgebildeter Keyboarder. In einer Doku über die Band beschrieb der sehr britische Lakoniker Andrew Fletcher die neue Konstellation denn auch so: «Martin's the songwriter, Alan's the good musician, Dave's the vocalist, and I bum around.» Alan ist der gute Musiker, ich lungere herum.
Dann kamen die Reibereien. Wilder wurde unzufrieden. Es soll Differenzen vor allem mit Fletcher gegeben haben. Man entschied sich für den Typen, der herumlungerte. Kluge Entscheidung.
Als der Krieg zwischen Sänger und Komponist heisser wurde, als Gahan also mehr und mehr beim Songwriting mitmischen wollte und sich mit Gore über die Anteile zerfleischte, soll es Fletcher gewesen sein, dem der Ausgleich gelang. Immer wieder war er der Interimsmanager der Band. Ein Vermittler und Synchronübersetzer zwischen den Anzugträgern und den Künstlern. Geschult durchs Herumlungern am Rand, ein kühles Bier im Anschlag. Schnell ein paar dieser genreprägenden Synthieflächen einstreuen, kurz aufs Foto stellen, Check einsammeln. Fertig. Jede Band sollte einen wie ihn haben.
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