Covid-Welle in ChinaDaten deuten auf gewaltige Übersterblichkeit hin
Hochrechnungen gehen von bis zu 2,4 Millionen Covid-Toten in China aus. Was die Daten aber auch zeigen: Die chinesische Impfung schützt wohl besser als erwartet.
Covid-Todesfälle, schwere Krankheitsverläufe und überlastete Intensivstationen liegen bei uns weit zurück und gehen zunehmend vergessen. Auf der anderen Seite der Erdkugel ist die Pandemie jedoch noch sehr präsent. Nachdem China Anfang Dezember fast von einem Tag auf den anderen die Zero-Covid-Politik aufgegeben hatte, rollte eine riesige Infektionswelle über das Land. Rund 80 Prozent der Bevölkerung hatten sich laut den chinesischen Behörden innerhalb weniger Wochen angesteckt. Das entspricht 1,1 Milliarden Menschen – jeder siebte Mensch auf der Welt.
Wie gravierend die Welle für die Menschen war, wie oft schwere oder tödliche Krankheitsverläufe vorkamen, dazu gibt es nach wie vor keine offiziellen Zahlen, die verlässlich wären. Im Vorfeld war befürchtet worden, dass die Chinesinnen und Chinesen wegen mangelhafter Immunität und eines weniger ausgebauten Gesundheitswesens einen hohen Tribut zahlen müssten.
So schrieb zum Beispiel der profilierte US-Epidemiologe und Gesundheitsökonom mit chinesischen Wurzeln Eric Feigl-Ding Mitte Dezember in einem viel beachteten Tweet, dass die Lage «thermonuclear bad», also katastrophal, sei. «Die Zahl der Todesfälle dürfte in die Millionen gehen – Mehrzahl», schrieb er. In zahlreichen Medien kursierten bald schon Berichte von überfüllten Spitälern, sich stapelnden Leichen und Warteschlangen vor Krematorien. (Lesen hierzu: Ungesehene Corona-Welle in China: Hier stirbt jeder für sich allein)
Manche im Westen sahen in China eine Art Labor, wo sich zeigen würde, was tatsächlich passiert, wenn das Coronavirus auf eine ungeschützte Bevölkerung losgelassen wird. Doch wie schlimm ist die Welle tatsächlich geworden?
In Macau gingen die Zahlen durch die Decke
Eine ungefähre Abschätzung der Zahl von Todesfällen ermöglichen Daten aus Macau. Die chinesische Sonderverwaltungszone folgte in weiten Teilen der rigiden Covid-Politik von Festlandchina und beendete diese auch gleichzeitig. Die Stadt mit annähernd 700’000 Einwohnerinnen und Einwohnern befindet sich an der Südküste Chinas und gehörte bis 1999 zu Portugal.
Im Gegensatz zu Festlandchina werden in Macau Zahlen zur Sterblichkeit veröffentlicht. Und diese gingen kurzzeitig durch die Decke. Aus den offiziellen Zahlen geht hervor, dass im vergangenen Dezember 235 Prozent mehr Menschen starben als im Vorjahr, im Januar 2023 waren es 288 Prozent. Daten von «Our World In Data», die mit den Werten der Jahre 2015 bis 2019 vergleichen, kommen auf ähnliche Werte. Es ist einer der steilsten Anstiege während der gesamten Pandemie, die je ein Land erlebt hat. Bereits im Februar waren die Zahlen aber wieder im gleichen Bereich wie vor der Öffnung.
Zusammengenommen starben in diesen beiden Monaten zusätzlich 1143 Menschen. Das ist jeder 500. Infizierte, wenn 80 Prozent der Bevölkerung angesteckt wurden. Hochgerechnet auf Festlandchina mit 1,4 Milliarden Einwohnern wären das 2,4 Millionen zusätzliche Todesfälle in zwei Monaten. Zum Vergleich: Die Weltgesundheitsorganisation WHO ging vor der Welle in China von rund 15 Millionen Covid-Toten weltweit aus.
Das ist natürlich eine nur sehr krude Abschätzung mit zahlreichen Unsicherheiten. So ist es zum Beispiel denkbar, dass im städtischen Macau mehr als die 80 Prozent der Bevölkerung infiziert wurden, die als Durchschnitt für ganz China geschätzt wurden. Ausserdem gilt Macau als eine Art Florida von China und hat wie der US-Bundesstaat eine im Vergleich alte Bevölkerung. Auch dadurch könnte die Sterberate im Vergleich zu Festlandchina höher gewesen sein.
«Dies deutet darauf hin, dass die Covid-Welle zu sehr hoher Übersterblichkeit geführt hat.»
Trotz der Unsicherheit solcher Abschätzungen, wie sie auch das Nachrichtenmagazin «The Economist» gemacht hat: «Dies deutet darauf hin, dass die Covid-Welle zu sehr hoher Übersterblichkeit geführt hat, vermutlich in ähnlicher Höhe in ganz China», wie Richard Neher vom Biozentrum Basel, Mitglied des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums Covid-19, auf Anfrage schreibt.
Einige Forscherinnen und Forscher haben vor der Welle verschiedene Berechnungen vorgenommen und sind dabei auf Werte zwischen 600’000 und 2,3 Millionen Toten gekommen. Viele der Schätzungen stützen sich dabei auf Daten aus Hongkong. Diese andere Sonderverwaltungszone durchlitt von Februar bis April 2022 eine fatale Covid-Welle. Im März 2022 war die Übersterblichkeit dreimal höher als in anderen Jahren. Insgesamt starben in der 7,5-Millionen-Stadt während dieser Welle zusätzlich 10’000 Menschen.
Im Vergleich zu den rund 10 Millionen Toten in China in normalen Jahren sind die Werte jedenfalls hoch. Sie übertreffen deutlich die gegen 90’000 Covid-Toten, die die chinesische Regierung bekannt gibt. Dass diese Zahl zu tief ist, legen auch Berichte von Ärztinnen und Ärzten aus China nahe, die unter Druck gesetzt worden seien, Covid als Todesursache auf den Totenscheinen wegzulassen. Wer zu Hause an Covid starb, wurde ebenfalls nicht erfasst.
Chinesische Impfung schützte besser als erwartet
Sorge bereitete im Vorfeld vor allem die Vermutung, dass die chinesischen Impfstoffe weniger gut schützen als die in den USA und in Europa hauptsächlich eingesetzten mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna. Allerdings war die Wirkung wahrscheinlich besser als erwartet. Eine Studie mit 470 Staatsangestellten aus Hongkong, die im Fachblatt «The Lancet» veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass eine Grundimmunisierung mit dem chinesischen Impfstoff CoronaVac zumeist schwere Verläufe verhindern konnte. Gemäss der Studie schien grundsätzlich für den Immunschutz eine rechtzeitige Auffrischungsimpfung wichtiger zu sein als die Art des Impfstoffs.
Die Durchimpfung der Chinesen ist eigentlich gut. Laut dem Epidemiologen Benjamin Cowling von der Hongkong-Universität sind über 90 Prozent mit zwei Dosen geimpft. Allerdings sei die Rate bei den Älteren tiefer, schrieb er Anfang Januar im Fachblatt «Nature Medicine». Bei den über 80-Jährigen hatten Ende 2022 demnach nur rund 40 Prozent eine dritte Dosis. «Unsere Arbeiten in Hongkong haben gezeigt, dass in dieser Altersgruppe drei Dosen des Impfstoffs für einen viel höheren Schutz sorgen als nur zwei Dosen», so der Epidemiologe. Auch hier zeigte sich: Der Schutz des chinesischen Impfstoffs CoronaVac war nach einem Monat vergleichbar mit drei Dosen des RNA-Impfstoffs von Pfizer/Biontech.
Es ist also davon auszugehen, dass die Impfungen auch in China das Sterberisiko bei einer Corona-Infektion deutlich senkten. Denn – anders als oft behauptet – die Omikron-Variante ist ähnlich gefährlich wie die ursprüngliche Wuhan-Variante, wenn sie auf eine Bevölkerung ganz ohne Immunschutz trifft. Zu diesem Schluss kommt zumindest das Forschungsteam um Cowling in einem weiteren, noch nicht begutachteten Paper auf der Publikationsplattform «medRxiv». Bei hospitalisierten Patientinnen und Patienten ohne Impfung war in Hongkong die Sterblichkeit bei der Wuhan-Variante vergleichbar hoch wie bei Omikron (BA.2).
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