Krise zwingt zum Umdenken Wie das Coronavirus die Globalisierung zurückdreht
Die Pandemie hat die ausgeklügelten Lieferketten globaler Industrieriesen durcheinandergewirbelt. Nun setzen sie wieder vermehrt auf lokale Lieferanten – womöglich dauerhaft. Was das für die Preise und Schweizer Firmen bedeutet.
Lokal statt global – so lautet die neue Maxime, die sich nach der Corona-Krise viele Unternehmen auf die Fahnen schreiben. Selbst globale Industriegiganten wie ABB können sich dem nicht entziehen. «Das Covid-19-Virus wird Auswirkungen haben auf die Art, wie wir unser Geschäft führen und unsere Produkte herstellen», sagt der neue Firmenchef Björn Rosengren.
Das sind drastische Worte. Was war passiert? Der Schweizer Konzern hatte wegen der Viruskrise in den vergangenen Wochen mit Unterbrechungen seiner Lieferkette zu kämpfen und konnte wichtige Projekte nicht rechtzeitig abliefern. Für Rosengren Grund genug, das bisherige Vorgehen infrage zu stellen. «Ich denke, wir werden mehr lokale Lieferanten sehen», sagt er.
«Wenn ich gewusst hätte, was da auf uns zukommt, hätten wir dem Einkauf noch mehr Augenmerk geschenkt.»
Der Aufzugshersteller Schindler kam in der Krise mit einem blauen Auge davon. Dank zahlreich eingeleiteter Notmassnahmen gelang es dem Konzern, einen Produktionsstillstand durch das Fehlen wichtiger Teile aus China zu vermeiden. Andere hatten weniger Glück: Europäische Autobauer mussten ihre Werke für mehrere Wochen stilllegen – unter anderem, weil Lieferungen aus China fehlten. Der Schaden ist gewaltig. Und auch an Schindler geht das Erlebte nicht spurlos vorbei. «Ich muss gestehen, wenn ich gewusst hätte, was da auf uns zukommt, hätten wir dem Einkauf noch mehr Augenmerk geschenkt», sagt Firmenchef Thomas Oetterli rückblickend.
Wenn Grosskonzerne sich umorientieren und künftig lieber Güter vor Ort einkaufen, läutet das das Ende der Globalisierung ein? Bis zu einem gewissen Grad ja – sind Experten sich einig. Auch EU-Industriekommissar Thierry Breton prophezeit im «Handelsblatt»: «Die derzeitige Krise wird Auswirkungen auf die Globalisierung haben.»
Ein Viertel der Firmen will künftig regional einkaufen
Die Einkaufsabteilungen der Firmen haben mit dem Umdenken bereits begonnen. Eine Blitzumfrage des österreichischen Branchenverbands BMÖ gemeinsam mit dem Münchner ISM-Institut und einer Unternehmensberatung hat ergeben, dass knapp ein Viertel der 74 befragten Unternehmen Vorprodukte und Ausgangsstoffe künftig regional beziehen oder selbst anfertigen will – als unmittelbare Antwort auf die Krise.
Denn längst ist eine termingerechte Lieferung keine Selbstverständlichkeit mehr. Die grössten Schwierigkeiten verzeichnen Schweizer Unternehmen aktuell bei Lieferanten aus Italien – aber auch bei Gütern aus der Schweiz selbst sowie aus Deutschland und China gibt es Einschränkungen, wie aus dem Einkaufsmanagerindex PMI hervorgeht.
Der Schweizer Fachverband beobachtet den Trend zu einem lokaleren Einkauf bereits seit einiger Zeit. «Es gibt schon seit längerer Zeit Tendenzen hin zu mehr Regionalität, einige Unternehmen haben sich beispielsweise nach Ersatzmärkten für den Beschaffungsmarkt China umgesehen», erklärt der Schweizer Fachverband für Einkauf und Supply Management Procure.ch.
Deglobalisierung könnte zu steigenden Preisen führen
Nach Einschätzung des UBS-Chefökonomen für die Schweiz, Daniel Kalt, dürfte die Pandemie den Trend zur Deglobalisierung, der sich auch bereits in diversen Handelshemmnissen zwischen den USA und China zeigt, verstärken. «Firmen haben in globalen Lieferketten oft nur den günstigsten Lieferanten gewählt, mit tiefen Lagerbeständen ihre Bilanz optimiert und Produkte just in time ans Fliessband liefern lassen. Der Schock durch Corona wird zu einem Umbau führen», ist der Ökonom überzeugt.
Künftig setzen Firmen wohl eher auf Sicherheit statt auf einen Prozentpunkt mehr Rendite. Viele bauen für wichtige Produkte Zweitlieferanten auf. Doch das hat seinen Preis: «Wenn man alles doppelt fährt, hat man auch doppelte Kosten – das will man natürlich nicht», sagt ein Industrieunternehmer. «Doch das Sicherstellen der Lieferfähigkeit ist auf der anderen Seite auch wichtig. Das ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.» Nach Einschätzung von Kalt könnte ein lokaler und damit tendenziell teurer Einkauf vereinzelt auch zu höheren Preisen für Endprodukte führen – auch wenn sich das wohl erst mittel- bis langfristig auswirken dürfte.
Pharmaindustrie setzt weiter auf globale Lieferketten
Nicht alle Branchen setzten jedoch auf Deglobalisierung – wie etwa das Beispiel der Pharmaindustrie zeigt. Rund 80 Prozent der Medikamentenwirkstoffe kommen aus Asien. Novartis-Chef Vas Narasimhan glaubt, dass sich daran nicht viel ändern wird, wie er im Interview mit der «SonntagsZeitung» sagt: «Während der H1N1-Pandemie im Jahr 2009 wurde auch gefordert, dass jeder Staat auf seinem eigenen Territorium eine Anlage für die Impfstoffproduktion haben soll. Die weltweiten Lieferketten bestehen aber nach wie vor. Ich gehe davon aus, dass es auch jetzt nicht zu grösseren Veränderungen kommen wird.»
Pharmaexperte Fritz Heese von der Beratungsfirma Oliver Wyman erklärt das damit, dass sich trotz der Krise keine signifikanten Ausfälle gezeigt haben. «Damit gibt es auch keinen akuten Grund für andere Lieferketten.»
«Eine der Lehren aus Corona muss sein, dass systemrelevante Produkte wieder vermehrt in der Schweiz produziert werden.»
Von dem Trend zu einer stärkeren Regionalisierung profitieren könnten längerfristig klein- und mittelständische Betriebe, ist UBS-Ökonom Kalt überzeugt. Sie haben ihre Innovationskraft bereits in der Krise bewiesen, als einige KMU ihren Betrieb auf die Herstellung von Desinfektionsmittel, Schutzmasken oder Schutzmäntel umgestellt haben, die in der Krise Mangelware waren.
Auch der auf klein- und mittelständische Unternehmen in der Maschinenbau-, Elektro- und Metallbranche spezialisierte Verband Swissmechanic sieht hier eine Chance für Schweizer Unternehmen. «Eine der Lehren aus Corona muss sein, dass systemrelevante Produkte wieder vermehrt in der Schweiz produziert werden. Das stärkt den Werkplatz Schweiz. Hier können unsere Unternehmen einen wesentlichen Beitrag leisten», sagt der Direktor des Verbands, Jürg Marti. Als Gegner der Globalisierung will er sich jedoch nicht verstanden wissen. Denn schliesslich haben die exportorientierten Schweizer KMU – und damit die ganze schweizerische Volkswirtschaft – in den vergangenen Jahrzehnten stark von den globalen Absatzmöglichkeiten ihrer Produkte profitiert.
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