Interview mit KlimaforscherHerr Fischlin, wird da die Wissenschaft mit Füssen getreten?
Der renommierte Zürcher Klimaforscher Andreas Fischlin warnt nach der Konferenz von Ägypten davor, das 1,5-Grad-Ziel aufzugeben.

Andreas Fischlin, die Klimakonferenz in Sharm al-Sheikh ist mit einer grossen Enttäuschung zu Ende gegangen. Nun gibt es zwar einen Fonds, um die Kosten bei Klimaschäden in armen Staaten abzufedern, aber ein überzeugendes Bekenntnis fehlt, aus den fossilen Energien auszusteigen. Wird da die Wissenschaft mit Füssen getreten?
Der Ausgang der Klimakonferenz hat mich nicht überrascht. Der reiche Westen verhält sich bis heute nicht immer so, als hätte er den bisherigen Klimawandel mehrheitlich verursacht. Man kann grob sagen, dass zum heutigen Klimawandel die USA 24 Prozent, die EU 17 und alle Industrieländer zusammen etwa 55 Prozent beigetragen haben. Demgegenüber ist der Anteil Chinas mit 14 Prozent viermal kleiner. Da für den Klimawandel das aufsummierte CO₂ über Jahrhunderte massgebend ist, stammt der grössere Teil der Erwärmung also immer noch von den Industriestaaten, und das, obwohl China in Sachen Treibhausgasausstoss heute die Nummer eins ist.
Gleichzeitig werden die Auswirkungen des Klimawandels immer deutlicher.
Ja, Pakistan zum Beispiel hat sich noch gar nicht vom letzten Hochwasser 2010 erholt und wurde dieses Jahr wieder in katastrophaler Art getroffen. Ich denke, auch infolge derartiger Entwicklungen ist die Länderkluft an der Klimakonferenz in Ägypten leider wieder grösser geworden. Hier die reicheren Industrieländer, die nach wie vor nicht die ganzen 100 Milliarden zahlen, die sie 2015 in Paris versprochen haben, dort die armen Staaten, die immer stärker vom Klimawandel betroffen sind. Kommt hinzu, dass gerade in den USA die Politik unbeständig ist. Wer weiss, ob das starke Klimagesetz von Präsident Biden unter einem anderen Präsidenten noch Bestand hat.
Aber ist es nicht an der Zeit, dass eine Wirtschaftsmacht wie China auch ihren finanziellen Beitrag zahlt? Bislang sind nur die Industriestaaten die Geberländer.
Ja, China muss sicher einen viel grösseren Beitrag als bisher leisten. Ich habe jahrelang mit den Chinesen verhandelt und denke, dass die chinesische Führung den Klimawandel sehr ernst nimmt, ja sogar fürchtet. Das Land weiss aber auch genau, dass sich dieses Problem nur global lösen lässt. China verfolgt insgeheim auch eine kontinuierliche und gezielte Klimapolitik, verlangt aber, dass die Industrieländer in genügender und fairer Art mitmachen.
«China können wir nur zwingen, sich zu bewegen, wenn wir vorangehen.»
Wie können wir China überzeugen, mehr Verantwortung zu übernehmen?
China können wir nur zwingen, sich zu bewegen, wenn wir Industrieländer im Klimaschutz mit gutem Beispiel vorangehen. Aber es stimmt natürlich, dass die ursprüngliche Zweiteilung in Industrie- und Entwicklungsländer einen alten Zopf darstellt. Seit 1992, als die Klimarahmenkonvention beschlossen wurde, hat sich die Welt verändert. Fairness heisst heute, dass alle Staaten eine Mitverantwortung tragen. Es muss aber von allen Ländern gemeinsam definiert werden, wer welche Verantwortung trägt. Dabei kann man nicht bloss auf die momentanen territorialen Emissionen schauen, wie das zum Beispiel die USA unter Trump gemacht haben.
Nehmen wir den neu geschaffenen Fonds, um Klimaschäden und -folgen in den ärmsten Staaten zu begleichen. Verhältnismässig reiche Staaten wie China und Saudiarabien wollen sich hier nicht beteiligen.
Dieser Fonds ist wie eine Versicherung für alle Staaten, die unter durch den Klimawandel verursachten Überschwemmungen, Stürmen und Dürren leiden. Alle Staaten sollten diese Versicherung tragen. Man könnte hier auch einen Schlüssel entwickeln, der sich auf wissenschaftliche Methoden abstützt. Heute können wir mit Klimamodellen schnell und zuverlässig abschätzen, zu wie viel Prozent der menschgemachte Klimawandel an einem Extremereignis mitbeteiligt war. Dazu müssen wir vergleichen, wie wahrscheinlich ein bestimmtes Ereignis - zum Beispiel eine Überschwemmung - mit und ohne Klimawandel eintritt. Betrachtet man zudem die historischen Emissionen eines Landes, so liesse sich der Beitrag jedes einzelnen Staates am Klimawandel abschätzen.
Ägypten hat auch noch etwas anderes gezeigt: Viele afrikanische Staaten sehen eine Chance, in Zukunft noch mehr fossile Energie zu fördern. Der IPCC sagt aber, es darf keine zusätzliche Infrastruktur dafür mehr aufgebaut werden. Das muss Sie frustrieren.
Ja, es ist leider so, dass solche Entwicklungen nicht dem entsprechen, was mit der Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad erforderlich ist. Gemäss unseren Berichten sollten hier pro Jahr die Neuinvestitionen im Energiesektor um 2,7 Prozent weg von den fossilen zum Bereich der erneuerbaren Energien umgelagert werden. Mit solchen Vorhaben verfehlen wir diese Zielmarke leider deutlich.
«Wir können erst Mitte des Jahrhunderts feststellen, ob wir die 1,5-Grad-Grenze überschritten haben.»
Nach dieser Konferenz: Müssen die Klimaforscher und Politiker nicht ehrlich sein und sagen, das Ziel, eine Erderwärmung um 1,5 Grad zu verhindern, ist nicht mehr möglich, wie das Ihr Kollege Thomas Stocker, der Berner Klimaforscher, forderte?
Ich hüte mich davor. Das wäre meines Erachtens fatal. Als Naturwissenschaftler kann ich erst viele Jahre danach sagen, dass wir tatsächlich die 1,5 Grad überschritten haben. In den letzten IPCC-Berichten schätzen wir, dass mit den jetzigen Trends diese Grenze in den 2030er-Jahren erreicht sein wird. Wir könnten also frühestens gegen Mitte Jahrhundert die Überschreitung feststellen. Aber die Weichen hierzu stellen wir heute! Zudem ergibt sich die Begrenzung nur aus schwer kontrollierbaren gegenläufigen Prozessen, den Emissionen und der Rücknahme von CO₂ aus der Luft. Die 1,5 Grad vorzeitig aufzugeben, macht für mich deshalb keinen Sinn, denn wir wissen schlicht nicht im Voraus, ob wir das schaffen oder nicht. Forschende aus den Politikwissenschaften betonen auch, dass ein Ziel in der Umweltpolitik selten vollständig erreicht wird. Das heisst, wenn wir jetzt die 1,5-Grad-Begrenzung aufgeben, dann werden wir auch das nächste Ziel des Pariser Übereinkommens, nämlich deutlich unter 2 Grad zu bleiben, nicht erreichen.
Aber wir sind ja bereits bei einer Erwärmung von 1,2 Grad.
Das sagt die Organisation Meteorologie WMO nur für 2022. Wetter ist nicht Klima, und es braucht noch einige Jahre, nämlich 15 Jahre vor und 15 Jahre nach 2022, um diese Zahl berechnen zu können. Laut IPCC sind wir heute bei 1,1 Grad.
Trotzdem nochmals: Wie sollen wir die Begrenzung auf 1,5 Grad erreichen?
Dazu brauchen wir eben nicht nur einen Umbau der Energieversorgung auf Erneuerbare, wir brauchen auch eine rasche Entwicklung und ausgereifte Methoden, um CO₂ aus der Luft zu entnehmen, sprich negative Emissionen. Schon heute zeigen alle Modelle, dass es ohne negative Emissionen nicht gehen wird, um auf netto null zu kommen. Je länger die CO₂-Emissionen steigen, desto mehr negative Emissionen brauchen wir.
Das heisst, wir müssen mehr in Technologien investieren, wie es die Schweizer Firma Climeworks anbietet, die CO₂ aus der Atmosphäre filtert?
Nicht nur. Bei dieser Technologie wissen wir nicht, ob sich genügend CO₂ wirtschaftlich herausfiltern lässt. Weit vielversprechender, da weit kostengünstiger und energetisch unproblematisch ist die sogenannte BECCS-Technologie (Bioenergy Carbon Capture and Storage). Dafür müssen Wälder nachhaltig und grossflächig für die Holzproduktion gepflegt werden. Das Holz wird dann zur Energiegewinnung verbrannt. Das dabei entstehende CO₂ wird zurückgehalten und auf Dauer im Boden eingelagert. Nur so erreichen wir netto null.
Wie schnell reagiert denn das Klimasystem, wenn die Emissionen heute auf null sinken würden?
Selbst dann würde die Temperatur kaum sinken, weil das Klima schon stark aus dem Gleichgewicht geraten ist. Vegetation und Ozeane nehmen viel Kohlenstoff auf. Heute entsorgen sie fast 55 Prozent der Emissionen. Doch die Ozeane reagieren träge, Und ein Grossteil des CO₂ bleibt lange in der Atmosphäre. Jede zehnte Tonne, die ich heute ausstosse, bleibt 40’000 Jahre da. Bis also ein neues Gleichgewicht erreicht würde, bliebe die Temperatur für viele Jahrhunderte auf heutigem Niveau stehen. Erst wenn wir keine Emissionen mehr produzierten und zusätzlich CO₂ aus der Luft herausfiltern würden, wird die Temperatur sinken. Anders gesagt: Solange wir Menschen CO₂ in die Atmosphäre blasen, wird die Atmosphäre weiterhin erwärmt.
Zu den Treibhausgasen, die zu reduzieren sind, gehört auch Methan, das nur etwa zehn Jahre in der Atmosphäre bleibt, aber ein höheres Erwärmungspotenzial als CO₂ hat. Würden wir Zeit gewinnen, wenn wir den Fokus auf die Methanreduktion setzen würden?
Der Effekt ist relativ gross, wenn man Methan stark reduzieren würde. Doch das ist sehr schwierig, weil Methan bei uns hauptsächlich aus der Landwirtschaft stammt. Ich kann mir eine Schweiz ohne Kühe nur schwer vorstellen, und eine nachhaltige Viehwirtschaft ohne Futtermittelimporte scheint mir aus Klimasicht vertretbar, wenn wir das durch CO₂-Entnahme kompensieren. Wirksamer wäre, Lecks in Gasleitungen und beim Abfackeln zu vermeiden. Aber den Fokus heute auf Methan zu setzen, halte ich im Moment für gefährlich. Heute gilt es, das langlebige CO₂ so rasch wie immer möglich zu reduzieren. Der neueste IPCC-Bericht Mitigation besagt, dass die globalen Emissionen spätestens ab 2025 sinken müssen, wollen wir die Begrenzung auf 1,5 Grad nicht verlieren.
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