Rückkehr zur Normalität frühestens 2022Das Rennen um Impfstoffe hat unerwünschte Nebenwirkungen
Fast 50 Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 sind in der Entwicklung. Der erste, der zugelassen wird, dürfte nicht der beste sein – und er könnte die Entwicklung überlegener Impfstoffe verlangsamen.
Die zweite Welle der Corona-Infektionen ist da. Und der Frust der Menschen ist mit Händen zu greifen. Entsprechend gross ist die Sehnsucht, dass ein Impfstoff die schnelle Rückkehr zu einem normalen Leben erlaubt.
48 Vakzine-Kandidaten befinden sich derzeit in der klinischen Studie, 11 davon in der letzten und entscheidenden Phase 3. Das deutsche Pharmaunternehmen Biontech und Partner Pfizer hoffen, in den nächsten Wochen erste Ergebnisse zur Wirksamkeit ihres Impfstoffs BNT162b2 zu erhalten.
Doch Experten warnen: Die ersten zugelassenen Impfstoffe müssen nicht die besten sein. Auch die Zulassung eines Impfstoff dürfte daher keine schnelle Rückkehr zu einem normalen Wirtschaftsleben erlauben. Ferner droht die Zulassung eines ersten Impfstoffs die Entwicklung weiterer Vakzine-Kandidaten zu verlangsamen.
Tiefe Schwelle für Zulassung
Die US-Zulassungsbehörde FDA verlangt lediglich eine Wirksamkeit von 50 Prozent, damit ein Corona-Impfstoff zugelassen werden kann. «Ich warne vor der Erwartung, dass ein Impfstoff eine Rückkehr zu vollen Kneipen und vollen Fussballstadien erlauben wird», sagt daher Michael Nawrath, Arzt und Aktienanalyst der Zürcher Kantonalbank.
Auch Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und Mitglied der Covid-19-Taskforce, dämpft die Erwartungen: «Impfstoffe der ersten Generation sind meistens noch nicht ideal und schützen deshalb nur teilweise», sagte er dieser Zeitung. Zuversichtlicher ist Immunologie-Professor Christian Münz von der Uni Zürich: Die bisher vorliegenden Daten liessen nicht den Schluss zu, dass der erste Impfstoff schlecht sein werde, meint er.
Schutzmassnahmen bis Ende 2022
Aber auch Münz rechnet nicht mit einer schnellen Rückkehr zum normalen Leben: «In der Übergangszeit wird die Maskenpflicht aufrechterhalten werden müssen.» Und die Länge dieser Übergangsphase hänge von der Wirksamkeit des Impfstoffs ab.
«Hat er nur eine Wirksamkeit von 50 Prozent, müssen 90 Prozent der Bevölkerung geimpft werden, damit die Ausbreitung verlangsamt wird», erklärt der Experte. «Das erfordert Zeit, daher könnte in diesem Szenario die Übergangszeit bis 2022 dauern, während derer weitere Schutzmassnahmen nötig sind.» Je wirksamer der Impfstoff, desto kürzer könne diese Übergangszeit sein, da weniger Menschen geimpft werden müssten, um die Ansteckung entscheidend zu verlangsamen.
Der internationale Wettlauf um die Zulassung eines Covid-Vakzins droht zudem andere Nebenwirkungen zu haben. So könnte die Zulassung eines ersten, mässig wirksamen Impfstoffs die Entwicklung anderer, wirksamerer Vakzine verlangsamen – und damit auch die Rückkehr zu einem normalen Leben.
Probanden drohen wegzulaufen
In der dritten, entscheidenden klinischen Phase müssen die Vakzine an Tausenden Probanden getestet werden. Dabei erhalten Teilnehmer im Kontrollarm der Studie ein Placebo, um die Wirksamkeit des Impfstoffs zu prüfen. Selbst die Ärzte, die die Studie begleiten, wissen nicht, wer was erhält. «Es besteht die Gefahr, dass andere Hersteller Probleme bekommen, Probanden für ihre klinischen Tests zu finden, gibt es einen ersten zugelassenen Wirkstoff», erklärt Taskforce-Mitglied Münz. Denn wer will schon die Gefahr eingehen, nur ein Placebo zu kriegen, wenn ein wirksamer Impfstoff verfügbar ist.
Darauf angesprochen, erklärt Biontech, dass das Start-up gemeinsam mit Pfizer schon fast alle der 44’000 Probanden mit seinem Impfstoffkandidaten für den Phase-3-Test oder dem Placebo geimpft habe. Sprich: Sollte Moderna die Mainzer bei der Zulassung noch überholen, wäre das Biontech-Testprogramm nicht gefährdet.
Wohl aber das anderer Hersteller, die noch nicht so weit sind. So hält John Shiver, Leiter der Sanofi-Impfstoffforschung, die Gefahr für real, Probanden für seine Tests zu verlieren, sollte ein erster Impfstoff zugelassen sein.
Arzt und Aktienanalyst Nawrath sieht ein weiteres Problem: Derzeit werden alle Impfstoffkandidaten in einem Kontrollarm gegen ein Placebo getestet. Ist aber erst einmal ein Vakzin zugelassen, müsste das Studiendesign geändert werden. «Denn neue Impfstoffkandidaten müssen dann gegen ein zugelassenes Vakzin getestet werden und nicht mehr gegen ein Placebo», so Nawrath. «Das macht klinische Tests teurer und zeitaufwendiger.»
Regelwerk mit Interpretationsspielraum
Prof. Christian Münz stimmt dem zu: «Bei klinischen Tests ist es Standard, ein neues Mittel gegen den Therapiestandard zu testen», sagt er. «Doch die Zulassungsbehörden haben hier Ermessensspielraum.» Biontech erklärt, dass die Studienprotokolle zum Ablauf der Phase 3 mit der US-Zulassungsbehörde FDA «abgesprochen» seien.
Laut der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic könnten Wirksamkeitsvergleiche auch nach den Phase-3-Tests durchgeführt werden. Swissmedic räumt aber ein, dass hierzu die Regeln nicht eindeutig seien. Und verweist auf das Regelwerk der US-Zulassungsbehörde FDA zu den Covid-19-Impfstoffen.
Sollte ein sicheres und wirksames Covid-19-Vakzin vorliegen, «könnten Diskussionen mit der FDA nötig werden», ob es ethisch vertretbar wäre, den Probanden im Kontrollarm noch ein Placebo statt eines Impfstoffs zu verabreichen, heisst es darin.
Kurzum: Wir brauchen alle viel Geduld. Selbst wenn alles wie geplant läuft und ein erster Wirkstoff eine Wirksamkeit von 70 bis 80 Prozent erzielen sollte und zudem die Impfakzeptanz in der Schweiz hoch ist, rechnet Taskforce-Experte Münz mit einer Rückkehr zu etwas, was an die Normalität erinnert, nicht vor «Mitte/Ende nächsten Jahres».
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