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Gewalt gegen Oppositionelle
Das Rätsel der Taliban-Regierung

Ein Taliban-Kämpfer in Kabul vor dem, was einmal ein Schönheitssalon war. 
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Die Taliban regieren Afghanistan nun schon mehr als einhundert Tage, doch was in ihrem «Islamischen Emirat» wirklich vor sich geht, bleibt unklar. Während die Führer der Islamisten bei jeder Gelegenheit betonen, dass sie der afghanischen Bevölkerung Frieden und Sicherheit gebracht hätten, schreckte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch jüngst mit einem gründlich belegten Bericht auf. Demnach ermorden die Taliban gezielt ehemalige Angehörige von Armee, Polizei und Geheimdienst. Und das, obwohl sie den Militärs, Polizisten und Geheimdienstlern nach der Machtübernahme Mitte August eine Generalamnestie oder zumindest eine faire Prüfung ihrer Fälle zugesagt hatten. In der HRW-Fallstudie «Keine Gnade für Leute wie euch» berichtet die Organisation von rund 100 Fällen in vier Provinzen, die solcher Willkür zum Opfer gefallen seien.

Unklar bleibt, ob die Entführungen und extralegalen Hinrichtungen von ganz oben angeordnet werden oder ob lokale Kommandanten das Schreckensregime verantworten. Aber die Gewalt steht im krassen Widerspruch zu dem, was die Taliban nicht nur bei ihrem jüngsten Treffen mit US-Vertretern im Golf-Emirat Katar zugesichert hatten: dass sie keine Rache nehmen, dass sie die Rechte von Frauen und Minderheiten achten, dass sie ehemalige Ortskräfte der westlichen Truppen und besonders gefährdete Personen wie Menschenrechtler, Aktivisten oder Journalisten ausreisen lassen würden. Dass sie sich also moderater verhalten würden als zur Zeit ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001.

Damals hatten sie ein angeblich auf der islamischen Scharia beruhendes Regime geführt – mit Terror gegen Minderheiten, öffentlichen Hinrichtungen und dem Ausschluss der Frauen und Mädchen vom öffentlichen Leben. Anrufe im Land belegen, dass die Taliban auch jetzt weiter gegen jede Art des Widerspruchs mit Gewalt vorgehen. Ehemalige Kabuler Aktivisten, die nicht genannt werden können, müssen untertauchen, werden im Fall ihrer Festnahme misshandelt. Selbst Frauen werden vorübergehend festgenommen, Familien von Aktivisten aus ihren Häusern oder Wohnungen vertrieben.

Terror aus Willkür oder mit System?

Auch hier bleibt unklar, ob es systematisch ist oder sich um die Willkür irgendwelcher Stadtviertel-Kommandanten handelt. Betroffene berichten, dass es vor allem die gefürchteten Taliban-Spezialeinheiten sind, die gegen Oppositionelle vorgehen. All das geschieht, obwohl die neuen Machthaber allen Grund hätten, sich zumindest vorerst mit der für sie charakteristischen Gewalt zurückzuhalten. Die Führer der Miliz hoffen weiter auf die internationale Anerkennung ihrer Herrschaft, bisher vergeblich. Die meisten ausländischen Botschaften bleiben geschlossen, Devisenreserven blockiert.

Die Regierung wirkt auch mehr als drei Monate nach der Machtübernahme heillos unorganisiert. Das Kabuler Kabinett selbst besteht weiterhin fast ausschliesslich aus Taliban-Kadern und Paschtunen. Keine einzige Frau sitzt darin, nur pro forma haben einzelne Vertreter ethnischer Minderheiten einen Posten bekommen. Der als Premierminister amtierende Mullah Mohammed Hassan Achund tritt kaum in Erscheinung. Auch seine Minister fallen nicht durch Aktivismus auf. In Diplomatenkreisen heisst es, die Strukturen seien schwer durchschaubar, Ansprechpartner stünden kaum zur Verfügung. Und selbst bei ihrer Kernkompetenz, dem Kriegsgeschäft, mangelt es den Taliban an Erfolgen: Der IS-Khorasan, der afghanische Ableger des sogenannten Islamischen Staats, verübt weiter Anschläge. Auch das rebellische Panjshir-Tal scheint bis heute nicht fest in der Hand der Taliban zu sein.

Ganz offensichtlich zerfallen die Taliban weiter in mindestens zwei Fraktionen.

Die Gründe liegen auf der Hand: Ganz offensichtlich zerfallen die Taliban weiter in mindestens zwei Fraktionen. Einmal die vermeintlich moderaten Angehörigen der Doha-Gruppe. Diese Taliban-Vertreter hatten jahrelang mit den USA verhandelt, sie zeigen angeblich mehr Einsicht in das politische Denken westlicher Regierungen. Auf der anderen Seite steht die weitaus mächtigere Gruppe rund um das Haqqani-Netzwerk: eine dem Geheimdienst Pakistans nahestehende Terrorzelle. Die Haqqanis halten wichtige Machtzentren wie das Innen- oder das Flüchtlingsministerium. Sie scheinen das Sagen zu haben in der Regierung.

Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass Taliban-Premier Achund nicht viel mitzuteilen hatte, als er sich das erste Mal überhaupt seit seiner Amtseinführung an die afghanische Bevölkerung wandte. Die Bürgerinnen und Bürger sollten den Taliban dankbar sein. Die hätten den zwanzigjährigen Krieg gewonnen, die ausländischen Truppen vertrieben und dem Land wie versprochen Sicherheit und ein islamisches Regime gebracht.

Die desolate Wirtschaftslage und die sich abzeichnende landesweite Hungersnot im «Islamischen Emirat» tat der Mullah ab. Dies gehe auf das Konto der gestürzten Vorgängerregierung unter Präsident Ashraf Ghani und auf das Konto westlicher Mächte, die die eingefrorenen afghanischen Devisenreserven in Höhe von fast zehn Milliarden Dollar nicht freigäben. Und, so Premier Achund, gehungert werde schliesslich auch nicht das erste Mal in Afghanistan. Das sei nicht die Schuld seiner Leute.

Eine kleine Erleichterung zeichnet sich ab

Eine Regierung also, mit der schwer ein Auskommen zu finden ist. Beim Treffen der Taliban mit dem neuen US-Afghanistan-Beauftragten Thomas West in Doha sassen katarische Technokraten mit am Tisch: Die USA lassen ihre Interessen vom Emirat Katar vertreten, ein deutliches Anzeichen dafür, dass mit einer Normalisierung des Verhältnisses, der Wiederöffnung der Botschaft oder gar breiter internationaler Anerkennung der Islamisten-Herrschaft so schnell nicht zu rechnen ist.

In Doha ging es dann auch um lange bekannte Fragen: Die Taliban fordern, dass sie die in den USA und in Europa eingefrorenen Devisen endlich bekommen, nur so könnten sie die strauchelnde Wirtschaft vor dem Totalzusammenbruch retten. Die USA wiederholen ihre Kernforderungen: Von Afghanistan dürfe keine Bedrohung für andere Staaten ausgehen. Gruppen wie der IS-Khorasan oder al-Qaida müssten von den Taliban ausgeschaltet werden, die Rechte der Frauen und der Minderheiten garantiert werden. Wirklicher Fortschritt ist also kaum zu erkennen im «Islamischen Emirat». Eine kleine Erleichterung allerdings zeichnet sich ab für die Afghanen: Die Weltbank will rund 280 Millionen Dollar aus einem Treuhandfonds freigeben für humanitäre Hilfe – ein Tropfen auf den heissen Stein angesichts der katastrophalen Zustände, unter denen die Afghanen leiden.