Economiesuisse vs. BundesratDas Phasenmodell: Wer hats erfunden?
Hat der Wirtschaftsverband den Schweizer Öffnungsplan skizziert? Ein Vergleich der Modelle von Economiesuisse und Bundesrat zeigt erstaunliche Ähnlichkeiten.
Hat der Wirtschaftsverband den Drei-Phasen-Öffnungsplan des Bundesrats skizziert? Economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch hat dies im SRF-«Club» durchblicken lassen. «Wir haben die Vorarbeiten gemacht und geschaut, wie ein solches Modell überhaupt aussehen könnte», sagte Minsch, als ihn Moderatorin Barbara Lüthi auf den Einfluss der Wirtschaft ansprach. «Der Bundesrat war dann Mitte April so weit und hat das Modell verabschiedet.» Lüthi fragt nach: «Also eigentlich hat Economiesuisse das Modell erfunden?» Der Chefökonom bestätigt. «Wir sind sehr happy, dass der Plan endlich aufgenommen wurde», sagt Minsch.
Die Wirtschaft habe dem Bundesrat den Lockerungsplan diktiert, ist der Tenor auf Twitter, die Landesregierung sei instrumentalisiert worden und opfere die Bevölkerung für die Wünsche der Wirtschaft. Hinter den Tweets stehen viele Nutzer, welche den Öffnungsplan als zu riskant bezeichnen und ihn ablehnen – nun ist ihre Wut noch grösser.
Beide Seiten haben ihre eigenen Hintergedanken: Economiesuisse gefällt natürlich der Gedanke, dass sie den medial gelobten Öffnungsplan erfunden haben soll. Und die Lockerungsgegner haben einen Sündenbock für die aus ihrer Sicht falsche Strategie erfunden.
Aber stimmt die Behauptung von Minsch überhaupt, hat der Bundesrat den Plan von Economiesuisse aufgenommen? Offiziell hat das BAG die Vorlage ausgearbeitet, heisst es beim Bund. Der Vergleich der beiden Modelle lässt aber zwei Interpretationen zu.
Zeitpunkt der Planpräsentation
Der Wirtschaftsverband präsentierte sein Phasenmodell am 14. Februar 2021. Damals entspannte sich die Corona-Lage in der Schweiz spürbar, die Fallzahlen waren nach der steilen zweiten Welle so tief wie seit Oktober 2020 nicht mehr. Die Talfahrt veranlasste Economiesuisse dazu, zusammen mit dem Arbeitgeberverband einen Lockerungsplan ab 1. März zu fordern und kurz vor der Bundesratssitzung Druck auf die Regierung zu machen.
Der Bundesrat informierte drei Tage später, am 17. Februar, über den ersten Öffnungsschritt. Das Phasenmodell war dabei kein Thema, stattdessen informierten Bundespräsident Guy Parmelin und Gesundheitsminister Alain Berset die Bevölkerung über den geplanten Monatsrhythmus. Nach dem ersten Schritt am 1. März sollten immer Anfang Monat neue Lockerungen folgen. Dieses Monatsmodell hielt nicht lange: Schon beim nächsten Entscheid am 19. März war es Geschichte. Die Talsohle bei den Fallzahlen war durchschritten, der Trend zeigte wieder nach oben.
Mit der Verschiebung des zweiten Schritts präsentierte der Bundesrat nun aber erstmals das Phasenmodell, fünf Wochen nachdem Economiesuisse ein solches gefordert hatte.
Die Phasen
Der Bundesrat stellte am 19. März seinen Plan vor. «Zunehmende Lockerung der Richtwerte bei zunehmender Verimpfung: 3-Phasen-Modell» ist das Dokument betitelt. Die drei Phasen wurden folgendermassen definiert:
Phase 1: bis alle Personen aus Risikogruppen vollständig geimpft sind.
Phase 2: sobald alle Personen aus Risikogruppen geimpft sind.
Phase 3: sobald alle Personen geimpft sind, die sich impfen lassen wollen.
Das Modell von Economiesuisse beruht auf vier Phasen. Einen gewaltigen Unterschied macht das aber nicht, wenn man sich diese etwas genauer anschaut:
Phase 1: ab Anfang März.
Phase 2: Risikogruppen sind geimpft.
Phase 3: Impfstoffe sind für alle verfügbar.
Phase 4: Herdenimmunität.
Die vierte Phase des Wirtschaftsverbands, Herdenimmunität, kommt im ersten Papier der Regierung noch nicht vor. In den später folgenden Details des BAG lässt sich diese Phase aber mit dem «Mittelfristplan» im Hinblick auf den nächsten Herbst und Winter vergleichen, der noch konkretisiert werden soll.
Im Grundsatz ähneln sich die Phasen von Economiesuisse und Bundesrat also stark, in den Details und Definitionen sind aber Unterschiede sichtbar.
Phase 1: Aktuell
In beiden Plänen werden in dieser ersten Phase die Risikogruppen noch geimpft. Für Economiesuisse sollte es trotzdem erste Lockerungen geben: Läden sollten am 1. März wieder öffnen, forderte der Wirtschaftsverband in seinem Papier vom 14. Februar. Der Bundesrat liess die Öffnung der Geschäfte zu. Auch Zoos, Museen und Bibliotheken durften teilweise wieder aufmachen. Das dürfte Economiesuisse gefreut haben, die in ihrem Plan lediglich Lockerungen forderte, «wo ein tiefes Ansteckungsrisiko besteht – also bei den meisten Tätigkeiten im Freien wie Velofahren oder Wandern». Wobei nicht ganz klar ist, wann dies jemals verboten wurde.
So weit die Einigkeit. Ob der Bundesrat die Läden sowieso öffnen wollte oder ob der Druck der Wirtschaft dahintersteht, ist kaum nachvollziehbar. Klar ist, dass Economiesuisse noch weiter ging und für den 1. März auch die Aufhebung der Homeoffice-Pflicht sowie die Öffnung der Restaurantterrassen verlangte. Homeoffice gilt noch immer, die Aussenbereiche der Gastronomie öffnete der Bundesrat zwar nicht im März, aber noch während der Phase 1.
Phase 2: Risikogruppen geimpft
Als Mitte April die zweite Lockerungsetappe gezündet wurde, sprach der Bundesrat noch nicht von Phasen. Die Konkretisierung des Modells folgte erst eine Woche später. Und gemäss der Definition im Modell wechselt die Schweiz frühestens Ende Mai in die Phase 2.
Mit den Lockerungen für Kinos, Theater und Fitnesscenter sorgte der Bundesrat für eine Überraschung. Sie entsprechen schon den Economiesuisse-Forderungen für Phase 2. Das gilt auch für Sport, Kultur, Veranstaltungen und Präsenzunterricht an Hochschulen, für die es selbst im Innenbereich gewisse Lockerungen mit Kapazitätseinschränkungen gab.
Weitere Öffnungen berät der Bundesrat Mitte Mai im Hinblick auf den Übergang zur Phase 2. Geplant sind drei Schritte: Ende Mai, Mitte Juni und Mitte Juli. Dann werden die Restaurants öffnen dürfen, wie dies der Wirtschaftsverband für die Phase 2 verlangt. Ebenfalls gelockert werden soll die Homeoffice-Pflicht, Sport mit mehr Teilnehmenden wird ermöglicht. Für Geimpfte, Genesene oder Getestete können sogar Clubs wieder öffnen, und es wird Grossveranstaltungen geben, wie der Bundesrat kürzlich informierte.
Praktisch sämtliche Forderungen von Economiesuisse für Phase 2 werden in diesen Lockerungsetappen voraussichtlich erfüllt, wenn es die Lage zulässt.
Phase 3: Die Impfwilligen
Alle können sich nun sofort impfen, deshalb sei alles zu öffnen und alle Veranstaltungen ohne Schutzkonzepte zuzulassen, schreibt Economiesuisse. Der Bundesrat rechnet sogar damit, dass bei Beginn der Phase 3 nichts mehr geschlossen ist. Nun gehe es noch um die Aufhebung der Zugangs- und Kapazitätsbeschränkung, heisst es im Konzept.
Der Bundesrat mahnt aber: Über 2 Millionen Menschen werden noch nicht geimpft sein und könnten das Gesundheitssystem durch eine erneute Krankheitswelle überlasten, wenn alles auf einen Schlag aufgehoben würde. Deshalb wird auch in Phase 3 schrittweise und risikobasiert gelockert, die Maskenpflicht im ÖV und in Läden wird «für eine gewisse Zeit aufrechterhalten bleiben». Das deckt sich mit den Plänen von Economiesuisse, welche eine vollständige Aufhebung der Maskenpflicht erst in ihrer vierten Phase fordert.
Sollte sich die Lage tatsächlich nochmals verschlimmern, wäre die einzige Verschärfung, welche der Bundesrat in der Phase 3 noch beschliessen würde, eine Zugangsbeschränkung für über 16-Jährige ohne Impfung oder Covid-Zertifikat. Die Hauptforderung von Economiesuisse ist damit vollständig erfüllt: «Der Staat darf geimpften Menschen keine Einschränkung ihrer wirtschaftlichen und persönlichen Freiheiten mehr auferlegen», heisst es im Vorschlag vom 14. Februar.
Herdenimmunität
Economiesuisse hat noch eine Phase 4 definiert: «Sobald eine Herdenimmunität besteht, wenn also 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, müssen alle verbliebenen Restriktionen aufgehoben werden.» Das Testen soll aber weitergehen, und auch das Contact-Tracing müsse rasch reaktiviert werden können. Wirksame Impfstoffe müssten jederzeit verfügbar sein.
Der Bundesrat hält eine Herdenimmunität für «wohl nicht realistisch». Dafür müssten 80 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein. Und: «Sollten erneute Infektionen (durch neu auftretende Virusvarianten oder durch eine zeitlich begrenzte Immunität) möglich sein, wird eine Herdenimmunität nie erreicht werden können», heisst es im Papier zum Phasenmodell.
Wer hats erfunden?
Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? Diese Frage lässt sich auch auf das Phasenmodell anwenden. Hat es Economiesuisse erfunden, und der Bundesrat hat es adaptiert? Oder ist die Ähnlichkeit reiner Zufall? Fakt ist, dass die Pläne sich stark gleichen, die Unterschiede liegen vor allem in Details. Die Lockerungsforderungen des Wirtschaftsverbands finden sich im Konzept der Regierung teilweise, teilweise nicht – und teilweise ging der Bundesrat noch weiter.
Die in Aussicht stehenden Öffnungsschritte bis zum Ende aller Einschränkungen sind allerdings auch keine neue Erfindung, sondern einfach ein kontinuierlicher Abbau aller derzeit noch gültigen Massnahmen. Eine Überschneidung ist also mit jedem erdenklichen Lockerungsplan nur logisch.
Auch eine Gliederung in Impfetappen liegt mit den schmerzlichen Pandemie-Erfahrungen auf der Hand: Die meisten Todesfälle gab es bei den Risikogruppen. Es ist daher logisch, dass andere Regeln gelten können, sobald diese geschützt sind. Dasselbe gilt, wenn alle Impfwilligen immunisiert sind.
Wie weit die Lockerungen oder Privilegien dabei jeweils gehen oder eben nicht, darüber lässt sich streiten. Zum Beispiel über den zweiten Öffnungsschritt mit Kinos und Fitnesscentern – mitten in der Phase 1. Economiesuisse wollte dies erst in Phase 2.
Das könnte also heissen: Der Bundesrat agiert sehr wirtschaftsfreundlich, wenn er auf die gleichen oder sogar auf extremere Lösungen als Economiesuisse kommt. Könnte aber auch heissen: Economiesuisse hat ein ausbalanciertes Modell erstellt, das sich nicht nur an der Wirtschaft orientiert, sondern auch gesellschaftliche und gesundheitliche Aspekte einbezieht.
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