Umweltverschmutzung in der TürkeiDas Marmarameer schnappt nach Luft
Klimawandel und Verschmutzung lösen im östlichen Mittelmeer eine gigantische Algenplage aus. Und die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte die Lage noch verschärfen. Experten warnen vor einer Umweltkatastrophe.
Auf den ersten Blick erregt es Ekel, auf den zweiten Wut, auf den dritten Zukunftsangst: Schleimiger, gräulich-weisser Glibber bedeckt das küstennahe Wasser, in den Häfen und an den Molen schaukeln die Schiffe und Boote im schmutzigen Schlick. Blaues Wasser ist über weite Strecken nicht mehr zu sehen. Der Schleim verklebt die Netze der Marmara-Fischer, ohnehin ist kaum noch Fisch da. Verschmutzt ist das Meer sogar rund um die berühmten Prinzen-Inseln: Die vier grösseren der Inseln zählen zu den Ausflugsparadiesen Istanbuls.
Das Marmarameer ist Schauplatz einer Umweltkatastrophe, die unter dem eher skurril wirkenden Namen «Meeresrotze» daherkommt, die aber das ökologische Ende des kleinen Binnenmeers zwischen dem Schwarzen und dem Mittelmeer bedeuten könnte. «Das ist ein Desaster», sagt der türkische Meeresbiologe Cemal Saydam. «Im Idealfall erholt sich das Meer in ein paar Jahren. Wenn überhaupt.»
Saydam, der früher an der Hacettepe-Universität in Ankara lehrte, warnt die türkische Zentralregierung und die Stadtverwaltungen am Marmarameer seit den Achtzigerjahren vor der Umweltverschmutzung und dem Phänomen des Meeresrotzes, das nun auch noch auf ein angeschlagenes Ökosystem trifft: Ungeklärte Abwässer und die Auswirkungen des Klimawandels nehmen dem Leben in der Marmarasee sprichwörtlich die Luft zum Atmen. «Was wir sehen, ist nur die Wasseroberfläche», sagt Saydam. Den Schleim an der Meeresoberfläche könne man vielleicht noch absaugen. «Aber am Meeresgrund wird die Situation ähnlich sein.»
Das Meer kollabiert
Der Seerotz ist Folge einer Algenplage. Der Schleim bildet sich durch die Ausscheidungen der Mikroalge Phytoplankton, die sich wegen der wandelnden Umweltbedingungen gerade rasant ausbreitet: Ihr Wachstum wird durch ansteigende Temperaturen, sinkende Sauerstoffversorgung und Abwassereinleitungen durch die Industrie und von Megastädten wie Istanbul begünstigt. Die Ausscheidung der Alge raubt den Fischen Sauerstoff und Bewegungsmöglichkeit, stranguliert Korallen und Muscheln. Die Meeresfauna wandert ab, stirbt. Das Meer kollabiert.
Überraschend kommt die Katastrophe kaum: Unter Umweltverschmutzung leidet das Marmarameer seit Jahrzehnten. Das kleine Binnenmeer ist eine der wirtschaftlichen Lebensadern der Türkei. Es verbindet das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer, die Durchfahrt läuft über die strategisch wichtigen Meerengen des Bosporus und der Dardanellen. Tausende Tanker, Kriegs- und Frachtschiffe frequentieren jährlich diese Route. Sie lassen ihre Abwässer im Marmarameer ab, verklappen Abfälle. Zudem gelangt ein Teil der Verschmutzungen des stark befahrenen Schwarzmeers aufgrund der Strömungsverhältnisse hinunter ins Marmarameer.
Dann sind da die Abwässer der 16-Millionen-Einwohner-Metropole Istanbul und der Schmutz weiterer Grossstädte entlang des Marmarameers. Und auch Fabriken belasten das Gewässer: Mehr als ein Drittel der türkischen Industrie liegt in der Marmara-Region.
«Wir werden unsere Meere schützen, besonders vor dem Seerotz-Problem.»
Entsprechend schlecht ist es um das Meer bestellt. Von den früher einmal mehr als 150 Fischarten soll es im Marmarameer heute nur noch 25 geben. Das Gewässer stehe seit längerer Zeit unter hohem Stress, wird Bayram Öztürk zitiert, Biologe bei der Türkischen Stiftung für Meeresforschung und Professor an der Uni Istanbul. Öztürk warnt, der Höhepunkt sei «noch nicht erreicht». Er und Meeresexperten wie Cemal Saydam fordern rasches Handeln. «Industrieabwässer müssen heruntergekühlt und effektiv gefiltert werden», sagt Saydam. Selbst im Idealfall werde sich der Zustand des Meeresgrunds frühestens innerhalb von sieben Jahren stabilisieren.
Effektives Handeln angesichts der absehbaren Katastrophe – genau dies haben der türkische Umweltminister Murat Kurum und Staatschef Recep Tayyip Erdogan nun versprochen: «Wir werden unsere Meere schützen, besonders vor dem Seerotz-Problem», so Erdogan. Die Frage ist, wie er das tun will. Auf die Hilfe der Stadtverwaltung von Istanbul als einem der grössten Verschmutzer am Marmarameer will er verzichten: Dort regiert die Opposition, die Innenpolitik kommt auch in der Katastrophe vor dem Umweltschutz. Stattdessen will der Präsident mit Universitäten zusammenarbeiten. Ein Forschungsschiff soll entsandt werden, und an manchen Uferbereichen Istanbuls wird der Schleim im Auftrag der Zentralregierung abgesaugt.
Für Erdogan ist die Schleimkatastrophe eine weitere Belastung. Der seit fast 20 Jahren Regierende steht ohnehin unter Druck. Zum einen veröffentlicht der ins Ausland geflohene Mafia-Boss Sedat Peker fortlaufend belastendes Material über die politische Elite und das familiäre Umfeld des Präsidenten: Die Führung wird als kriminell und korrupt gezeichnet. In Pekers Youtube-Auftritten geht es um Drogenhandel, um Waffenschiebereien an al-Qaida-nahe Islamisten in Syrien, um Ölschmuggel.
Zum anderen bleibt die wirtschaftliche Lage angespannt, trotz eines überraschenden Zuwachses des Wirtschaftswachstums: Die Preise steigen, im März lag die Geldentwertung aufs Jahr betrachtet bei 17 Prozent. Zu spüren ist das bei Grundnahrungsmitteln wie Zwiebeln, Kartoffeln, Tomaten. Immer mehr Türken leben an der Armutsgrenze. Würde gewählt, fände Erdogans Parteienbündnis derzeit keine Mehrheit.
Er braucht etwas, was sein Volk in Atem hält, Zukunft verspricht. So wie es aussieht, hat er es gefunden: Ende Juni soll Baubeginn sein für den «Kanal Istanbul». Die künstliche Wasserstrasse soll parallel zum Bosporus verlaufen und die Meerenge entlasten. Erdogan erhofft sich davon Tausende neue Arbeitsplätze und den Nimbus des Machers und Übervaters der Nation. Gebraucht wird der Kanal dagegen nicht.
Die Umweltfolgen aber wären katastrophal. Nicht nur würden für den Bau riesige Grünflächen im Nordwesten Istanbuls zubetoniert. Auch der bisher über den Bosporus verlaufende natürliche Wasseraustausch zwischen dem Schwarzen und dem Marmarameer würde endgültig zusammenbrechen, warnen Umweltschützer und Experten.
So auch der Meeresbiologe Cemal Saydam. Er sagt für den Fall des Baus eine Umweltkatastrophe voraus, die den Seerotz weit übertreffen und den Tod des Marmarameers bedeuten würde: «Das Meer kann keine einzige Störung mehr bewältigen.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.