Wandern auf der Via FrancigenaDas ist der schönste aller Wege nach Rom
Alle Wege führen in die Ewige Stadt, heisst es: Der für Fernwanderer und Pilger attraktivste ist derjenige über den Grossen St. Bernhard.
«Fernwandern», sagt Alexandra, eine Baslerin in ihren Fünfzigern, «beschränkt dein Dasein auf drei simple Sachen: Laufen, Essen, Schlafen. Das macht das Leben einfach.»
Einfach? Ich ahne, was sie meint. Aber einfach fühlt sich diese Fernwanderung grad eben nicht an: Wir wandern auf der Via Francigena, auch Frankenweg genannt, einer historischen Pilgerroute vom südenglischen Canterbury nach Rom zu den Gräbern der Apostel Paulus und Petrus.
Auf den Spuren der alten Römer und Napoleons
Etwa zehn Prozent dieses insgesamt über 2000 Kilometer langen Wegs führen durch die Schweiz. Dieser Streckenabschnitt von Sainte-Croix im Waadtländer Jura über Lausanne und Martigny auf den Grossen St. Bernhard gilt als der abwechslungsreichste und schönste der ganzen Strecke. Und als der anstrengendste. Vor allem wegen der letzten Etappe auf den 2473 Meter hohen Grossen St. Bernhard.
Und genau dahin sind wir grad unterwegs. Bourg-Saint-Pierre, das letzte Dorf vor dem Pass, liegt bereits knapp 400 Höhenmeter unter uns. Dort, in der Auberge Chez Marie-Jo, hatten Alexandra und ich uns am Vortag beim Abendessen kennen gelernt. Sie ist seit sieben Jahren eine leidenschaftliche Fern- und Pilgerwandererin: «Nach dem Tod meines Mannes riet mir damals eine Freundin, zur Trauerbewältigung den bekannten Jakobsweg auf dem Camino Frances von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich ins spanische Santiago de Compostela zu begehen. Das hat mir so gutgetan, dass ich seither immer mal wieder für ein paar Tage oder Wochen zur Pilgerwandererin werde.»
Auch auf der Via Francigena war sie bereits unterwegs: 2019 ist sie in eineinhalb Monaten von der Kathedrale in Lausanne bis zum Petersdom in Rom gewandert. Sobald die Pandemie uneingeschränktes Reisen wieder zulässt, will sie die andere Hälfte des Wegs unter die Füsse nehmen, von der Kathedrale in Canterbury nach Lausanne.
In Kontakt und im Einklang mit der Natur
Dabei ist Alexandra nicht sonderlich religiös, sie tue dies alles nicht, «um zu Gott zu finden oder bedeutsame Kirchen und Apostelgräber zu besuchen»: Wenn sie wandere, folge sie ganz einfach einem Urbedürfnis, sagt sie: «Schaue ich beim Gehen in den Himmel, fange ich an zu träumen. Ich bin in Kontakt und im Einklang mit der Natur, bei Sonne, Regen, Schnee. Laufen hat für mich etwas Mystisches, es ist tatsächlich eine Art Entdeckungsreise zu mir selbst.»
Zurück zum Aufstieg: Eben haben wir ein hier deplatziert wirkendes siloartiges Bauwerk passiert. «Das ist einer der Ablüftungskamine des Strassentunnels, der das Wallis mit Aosta auf der italienischen Seite des Grossen St. Bernhards verbindet», weiss Alexandra. Schritt für Schritt gewinnen wir nun über geschliffene Felsbrocken und Treppen, die von den Säumern aus dem Felsen herausgehauen wurden, an Höhe.
Beim Klang des gleichmässigen Click-Clack der Treckingstöcke auf den Steinstufen schweifen die Gedanken ab in längst vergangene Epochen. Genau hier kamen römische Truppen vorbei, wahrscheinlich auch Hannibal, später Teile des napoleonischen Heers, Hunderttausende von Pilgern, Reisenden, Händlern – die halbe Welt hat den Grossen St. Bernhard überquert.
Wir sind jetzt im Einschnitt Combe du Mort. Ein breiter, aber ruppiger Saumweg führt bergauf. Oben ist bereits das Gebäude des Hospizes zu sehen. Scheinbar nah, aber noch eine schweisstreibende halbe Wanderstunde entfernt.
Die letzten Meter vor der Passhöhe führen noch einmal richtig steil nach oben, die Oberschenkel brennen, und der Rucksack fühlt sich jetzt doppelt so schwer an wie vor Wochenfrist bei meinem Fernwanderstart in Lausanne. Aber auf einmal stehen wir nach knapp sechsstündigem Aufstieg oben auf dem Parkplatz neben dem Hospice du St-Bernard und klatschen uns, umgeben von Motorrädern und Wohnmobilen, ab. Geschafft.
Die meisten Fernwanderer übernachten hier, auf dem symbolträchtigen «Dach» der Via Francigena, entweder im Hospice du St-Bernard, wo die Pilger warmherzig empfangen werden, oder in der gleich gegenüber liegenden Auberge, einem normalen Hotel.
Alexandra indes blickt auf die Uhr und verabschiedet sich schon bald darauf: Für sie diente Aufstieg zum Pass «nur als kleine Auffrischung der Via-Francigena-Erinnerungen». Gleich fährt ihr Bus, der sie wieder zurück ins Tal führt, bevor es am Abend mit dem Zug heim nach Basel geht.
Auch ich übernachte nicht auf dem Pass. Ich trinke einen Schluck Tee aus dem Rucksack und mache mich auf der italienischen Seite des Grossen St. Bernhards auf den stotzigen Abstieg in Richtung Saint-Rhémy-en-Bosses. Dort warten im urigen Hotel des Alpes ein hoffentlich üppiges Abendessen und ein gemütliches Bett auf mich, bevor ich anderntags weiter nach Aosta hinuntersteige. Ja, Laufen, Essen, Schlafen. Fernwandern macht das Leben einfach.
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