Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Gedrosselte Gas-Lieferungen aus Russland
«Situation ist ernst»: Deutschland und andere Länder reaktivieren Kohlekraftwerke

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat sich mit den Grünen bisher für einen Ausstieg aus der Kohle eingesetzt. Nun muss er aufgrund gedrosselter Gas-Lieferungen Kohlekraftwerke zur Stromgewinnung wieder hochfahren.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Deutschland soll sich nach dem Willen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) durch Einsparen von Gas und ein milliardenschweres Kaufprogramm gegen einen möglichen russischen Lieferstopp wappnen. Das geht aus einem Papier hervor, das sein Ministerium am Sonntag vorlegte. Man werde den Gasverbrauch zur Erzeugung von Strom und in der Industrie verringern und stattdessen verstärkt die Gasspeicher befüllen, erklärte Habeck am Sonntag. 

«Noch können die ausfallenden Mengen ersetzt werden, noch läuft die Befüllung der Gasspeicher, wenn auch zu hohen Preisen. Die Versorgungssicherheit ist aktuell gewährleistet. Aber die Situation ist ernst», sagte Habeck. Man müsse jetzt vorsorgen, den Verbrauch verringern und Gas bevorraten, «sonst wird es im Winter wirklich eng».

Vergangene Woche hatte der russische Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 deutlich verringert, nach Angaben der Bundesnetzagentur vom Wochenende auf etwa 40 Prozent der maximalen Leistung. Gazprom begründete den Schritt mit Verzögerungen bei der Reparatur von Verdichterturbinen durch die Firma Siemens Energy.

Habeck hingegen sieht die technischen Gründe als Vorwand und stuft die Massnahme als politisch motiviert ein. Die Wartung der Verdichterturbinen sei erst im Herbst «relevant», sagt er. Von der Verringerung der gelieferten Gasmenge sind auch andere europäische Länder wie Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen. «Es ist offenkundig die Strategie von Putin, uns zu verunsichern, die Preise in die Höhe zu treiben und uns zu spalten. Das lassen wir nicht zu», sagte Habeck.

Kohlekraft soll Einsatz von Gas zur Stromerzeugung drücken

Um das Befüllen der Speicher zu sichern, wird die deutsche Regierung laut Habeck in Kürze zusätzliche Kredite zur Verfügung stellen, um Gas einzukaufen. Aus Regierungskreisen hiess es, hierfür stünden 15 Milliarden Euro zur Verfügung, die Summe sei in der Bundesregierung bereits abgesprochen.

Um den Verbrauch zu senken, soll weniger Gas zur Stromerzeugung genutzt werden. Stattdessen plant Habeck, hierfür für eine Übergangszeit mehr Kohlekraftwerke einzusetzen, erklärte Habeck. «Das ist bitter, aber es ist in dieser Lage schier notwendig, um den Gasverbrauch zu senken.» 

Für den Moment wieder mehr gefragt als auch schon: Das Kohlekraftwerk Datteln 4 des Betreibers Uniper in Düsseldorf.

Habeck und seine Partei hatten sich in der Vergangenheit vehement für einen schnelleren Ausstieg aus der Verstromung von Kohle eingesetzt. Aber: «Die Gasspeicher müssen zum Winter hin voll sein. Das hat oberste Priorität», sagte Habeck. Gas trug im vergangenen Jahr etwa 15 Prozent zur öffentlichen Stromerzeugung bei, der Anteil dürfte in den ersten Monaten dieses Jahres jedoch schon geringer gewesen sein.

Kohleausstieg 2030 soll bleiben

Habeck will zudem den Gasverbrauch der Industrie senken. Der Wirtschaftsminister will Anreize setzen, damit Industriebetriebe, welche am ehesten auf Gas verzichten können, dies auch umsetzen. Noch im Sommer soll hierzu ein Auktionsmodell an den Start gehen. Das eingesparte Gas soll dann ebenfalls für mögliche Engpässe im Winter gespeichert werden. Gas ist in Deutschland nicht nur für das Heizen von Wohnungen wichtig, sondern auch in vielen Industriebetrieben unverzichtbar, etwa bei der Herstellung von Glas. «Alles, was wir weniger verbrauchen, hilft. Hier ist die Industrie ein Schlüsselfaktor», sagte Habeck.

Ein Sprecher Habecks betonte am Montag, dass das Ziel eines Kohleausstiegs bis Ende des Jahrzehnts trotzdem nicht aus dem Blick geraten solle. «Der Kohleausstieg 2030 wackelt überhaupt nicht», sagte er in Berlin. In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP darauf verständigt, einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung anzustreben; «Idealerweise» gelinge das schon bis 2030.

SPD-Chef Lars Klingbeil signalisierte am Montag nach Beratungen der Parteigremien Unterstützung für den Wirtschaftsminister: Dass Kohlekraftwerke wieder stärker zum Einsatz kommen, sei «eine Option – aber eine, auf die wir nicht ideologisch blicken», sagte er. Klingbeil betonte, dass die Bundesregierung aber weiterhin an den Klimazielen sowie den Ausstiegszielen für Kohle und Atom festhalte

Braun- und Steinkohle kann reaktiviert werden

Nach Einschätzung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ist es möglich, Strom wieder vermehrt mit Kohle- statt mit Graskraftwerken zu erzeugen. Braunkohlekraftwerke könnten «in einem überschaubaren Zeitraum» wieder zur Verstromung angefahren werden, sagte Verbandschefin Kerstin Andreae im ARD-«Morgenmagazin». Das ginge auch mit Steinkohlekraftwerken, allerdings müsste dafür genügend Steinkohle zur Verfügung stehen.

Kerstin Andreae (rechts), sagt, dass Kohlekraftwerke wieder hochgefahren werden können. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Mitte) will mit Kohle Strom erzeugen lassen und so Gas sparen.

Markus Krebber, Chef von Deutschlands grösstem Stromerzeuger RWE, sagte der Süddeutschen Zeitung: «Überall, wo man auf andere Energieträger umstellen kann, sollte das erfolgen.» RWE betreibt grosse Gas- und Kohlekraftwerke in Deutschland, Grossbritannien und den Niederlanden. Krebber unterstützte Habecks Plan, für die Stromerzeugung nun so schnell wie möglich Kohlekraftwerke zu nutzen statt Gaskraftwerke.

Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, begrüsste ebenfalls das von Habeck geplante Hochfahren von Kohlekraftwerken zur Gaseinsparung. «Es ist völlig richtig, dass der technisch komplizierte Ausstieg aus dem russischen Gas vorbereitet wird, um möglichen Liefereinschränkungen durch Gazprom etwas entgegenzusetzen», sagte er der «Rheinischen Post». Hüther verwies darauf, dass die Industrie – Chemie, Glas, Papier, Stahl und vor allem Nahrungsmittel – kurzfristig die komplizierten Anpassungen kaum leisten könne.

Scholz räumt zu grosse Abhängigkeit von Russland  ein

Die Bundesnetzagentur bezeichnete die Lage bei der Gasversorgung am Samstag als «angespannt», aber «stabil». Derzeit könne weiterhin mehr Gas gespeichert werden, als aus den Vorräten entnommen werden müsse, die russischen Ausfälle werden durch Lieferungen aus anderen Ländern ersetzt, etwa aus den Niederlanden und Belgien. Die aktuellen Füllstände der Speicher in Deutschland liegen demnach bei fast 57 Prozent. Laut Gesetz müssen die Speicher zum 1. Oktober zu 80 Prozent gefüllt sein, zum 1. November zu 90 Prozent. Der Gasverbrauch ist stark von der Temperatur abhängig. Der Bedarf im Winter ist etwa achtmal höher als im Sommer.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) räumte derweil Fehler im Umgang mit Russland ein. Auf die Frage nach möglichen Versäumnissen seiner Vorgängerin Angela Merkel (CDU) sagte Scholz zwar, der Versuch einer Aussöhnung «kann nie falsch sein und der Versuch, friedlich miteinander zurechtzukommen, auch nicht». An dem Punkt sehe er sich eng an der Seite seiner Vorgängerin. Es sei aber ein Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik gewesen, «dass wir unsere Energieversorgung zu sehr auf Russland konzentriert haben, ohne die nötige Infrastruktur zu bauen, dass wir im Falle eines Falles schnell umsteuern können».

Österreich will abgeschaltetes Kohlekraftwerk reaktivieren

Angesichts der gedrosselten russischen Gaslieferungen hat auch Österreich beschlossen, ein abgeschaltetes Kohlekraftwerk zu reaktivieren. Betroffen ist das Fernheizkraftwerk im südösterreichischen Mellach südlich von Graz.

Das Bundeskanzleramt in Wien gab am Sonntag bekannt, die Behörden und der grösste österreichische Stromerzeuger, der Verbund-Konzern, arbeiteten daran, das Kraftwerk wieder für den Betrieb mit Kohle zu rüsten. Oberstes Ziel sei es, die Gasversorgung Österreichs sicherzustellen, sagte der österreichische Kanzler Karl Nehammer am Sonntag.

Aussenaufnahme des Kohlekraftwerks in Mellach: Angesichts der drohenden Gas-Knappheit soll das stillgelegte Kohlekraftwerk in der Steiermark wieder einsatzfähig gemacht werden.

Die Entscheidung traf die von Nehammer geführte konservativ-grüne Bundesregierung nach einer Sitzung des Krisenkabinetts zu den gedrosselten Gaslieferungen aus Russland. Mitte Juni lag die Füllmenge der österreichischen Gasspeicher erst bei 39 Prozent.

Das nahe Graz in der Steiermark gelegene Kraftwerk Mellach war im Frühjahr 2020 als letztes Kohlekraftwerk Österreichs vom Netz genommen worden. Die Abschaltung war Teil der österreichischen Klimaschutz-Strategie mit dem Ziel, 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Mit der nun beschlossenen Reaktivierung soll in Mellach im Notfall wieder Energie aus Kohle gewonnen werden. Laut der Nachrichtenagentur APA dauert die Umrüstung aber mehrere Monate.

Bundeskanzler Nehammer erklärte, es gehe Österreich darum, das fehlende russische Gas mit anderen Quellen oder anderen Lieferanten zu ersetzen.

Niederlande heben Beschränkungen auf

Auch die Niederlande wollen wegen der gedrosselten russischen Gaslieferungen verstärkt auf Kohlekraftwerke setzen. Energieminister Rob Jetten kündigte am Montag in Den Haag die Aufhebung aller zuvor beschlossenen Beschränkungen für Kohlekraftwerke an. Die Kraftwerke «können damit wieder mit voller Kapazität laufen statt mit maximal 35 Prozent», sagte er. Die Regierung rief zudem die erste Phase einer Gas-Krise, die Frühwarnung, aus.

Der russische Energiekonzern Gazprom hatte im Mai seine Lieferungen in die Niederlande gestoppt. Er begründete dies mit der Weigerung des niederländischen Energieversorgers Gasterra, in Rubel zu zahlen. Jetten betonte, derzeit gebe es keine akute Gas-Knappheit. Allerdings sei die niederländische Regierung wegen des zunehmenden Drucks Russlands «besorgt».

AFP/SDA/Benedikt Müller-Arnold/Roland Preuss