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Die Darts-WM – ein einziges Spektakel
Warum zum Teufel ist das so faszinierend?

LONDON, ENGLAND - JANUARY 03: Luke Littler of England looks on prior to the 2023/24 Paddy Power World Darts Championship Final between Luke Littler of England and Luke Humphries of England on Day Sixteen of the 2023/24 Paddy Power World Darts Championship at Alexandra Palace on January 03, 2024 in London, England. (Photo by Tom Dulat/Getty Images)
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Es folgt der Bericht eines gewöhnlichen Fernsehzuschauers, der an Darts bis vor Kurzem in ähnlicher Weise interessiert war wie an der Reportagereihe «Eisenbahn-Romantik». Ein Zuschauer also, der zum Darts-Sport bislang keine enge Bindung aufgebaut hatte – der aber nun, am Abend des Finals der Weltmeisterschaft im Londoner Ally Pally, bereits um 18 Uhr hochkonzentriert vor dem Bildschirm sitzt, um ja keine Sekunde der sage und schreibe dreistündigen Vorberichterstattung zu verpassen.

Beim deutschen Spartensender Sport1, der die WM auch in die Schweizer Stuben übertrug, sind sie nämlich in angenehmer Weise endgültig übergeschnappt. Sie haben erkennbar keinen Stoff für drei Stunden Programm, aber sie haben nun mal fantastische Quoten und einen dramaturgischen Höhepunkt vor der Brust, wie er in diesem noch jungen Fernsehsportjahr schwer zu überbieten sein wird. Schon die beiden Halbfinals am Vorabend hatten im Schnitt 1,49 Millionen Zuschauer allein bei Sport1 verfolgt. Noch mehr knallte es in Sachen Zuschauerzuspruch nur in England, und das hat mit dem zweiten Punkt zu tun, der Dramaturgie und vor allem jener des Turnierverlaufs von Luke Littler, einem der beiden Finalisten.

Littler ist 16 Jahre alt, sieht aber deutlich älter aus, fast so, als könnte er sein eigener Vater sein. Es ist ungewöhnlich, dass ein Spieler in diesem Alter an einer WM überhaupt teilnimmt. Es ist wahnwitzig, dass er es dort bis in den Final schafft. Und es ist absolutes Fernsehheroin, wenn das Los dieser Heldenreise ein offenbar auch innerlich Frühgereifter zieht, dessen unglaublich rasantes Emporkommen am Mittwoch ein nur vorläufiges und deswegen dramaturgisch perfektes Ende findet: die Finalniederlage auf höchstem Niveau gegen den gegenwärtig besten Spieler der Welt, Luke Humphries.

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Diese Darts-Weltmeisterschaft ist ein mediales Gesamtphänomen. Und ein ganz spezieller Teil davon ist dieser zunächst unwahrscheinliche, zwischenzeitlich unscheinbare, körperlich immer noch teilunförmige Luke Littler, der das Turnier im gleissenden Licht eines Warholschen Maximums beendet. Was macht die Faszination dieser Gesamtanordnung aus und was konkret die Faszination Littlers?

Eine nicht eben kleine Frage, die bei der Aufklärung all dessen zu beantworten ist, lautet: Was ist Darts? Wer nun sofort denkt oder sogar sagt «kein Sport», der hat erstens unrecht und macht es sich zweitens zu einfach. Das Phänomen Darts ist zu begreifen in einer Art Zoom, einer gedanklichen Kamerafahrt, die auf der Scheibe selbst ihren Anfang nimmt, und zwar nicht irgendwo, sondern auf dem winzigen Feld der dreifachen 20. Die meiste Zeit beim Fernsehdarts werfen nicht selten dicke Männer aus erstaunlich findigen Fingerspitzen gut 20 Gramm schwere Pfeile mit fortwährend verblüffender Akkuratesse auf genau dieses Feld. Drei Würfe haben sie pro Versuch, und immer wenn die ersten beiden in der dreifachen 20 gelandet sind, zoomt die Fernsehkamera noch etwas näher an das Feld heran. Eine absolut sinnfällige optische Artikulation der Hoffnung fast aller, auch der dritte Pfeil möge in besagtem Feld landen, weil dann, ja, dann bricht mal wieder lustig die Hölle los.

Cheerleader springen herum, Funken schiessen aus dem Boden

Beim Darts geht es eben nicht nur um den fraglosen Leistungssport, mit jedem geworfenen Dart im Schnitt 33 Punkte oder sogar noch etwas mehr zu erzielen (jedenfalls dann, wenn man Chancen haben möchte, den Final einer WM zu erreichen). Beim Darts geht es mindestens genauso um das gesamte Drumherum, und gerade dadurch wird aus dieser WM ein schwer schlagbares Medienprodukt. Weil in Kombination des niedrigschwelligen Regelwerks mit dem Getöse im Publikum für jeden etwas dabei ist und davon mehr als reichlich.

Dieses Drumherum ist ein Durcheinander und es beginnt noch auf der Bühne. Cheerleader springen herum, Funken schiessen in Fontänen aus dem Boden. Zwei Schreiber notieren links und rechts der Scheibe die Punkte wie eifrige Bankdrücker im Matheunterricht. Und durch alles hindurch knödelt die welteinmalige Hafenviertelstimme von «Caller» Russ Bray, seines Zeichens Legende, Hauptschiedsrichter und beim Final letztmalig auf grösster Bühne im Einsatz.

Erst über diesen Schlachtrufer entsteht die zwingend nötige Verbindung vom reinen und auch mal leisen Sport auf der Bühne zum umfassenden Spektakel im Auditorium. Die Tausende Zuschauer im Ally Pally treten ihren Dienst überwiegend kostümiert an, sie kommen als Hotdog oder Wimmelbild-Waldo und sie sind stimmungsmässig so schlagkräftig wie eine gut organisierte Ultra-Kurve. Gewiss, während Littler und Humphries eine Triple-20 nach der nächsten werfen, treffen manche Zuschauer beim Biertrinken den eigenen Mund nicht mehr. Aber es gibt kaum etwas, was der Chor nicht auffangen und kaschieren könnte, mit seinen Tausenden Kehlen, Armen, Pappschildern. Zu sehen ist da ein ganz wunderbarer, oft zügelloser Sitzungskarneval. Es wird gejubelt, gebuht, geraunt, gepöbelt, gesungen: «Stand up if you love the Darts».

Die Vergleiche mit Messi und Pelé

Und mittendrin also Luke Littler, genannt «The Prince of the Palace», nicht genannt «The Darts Knight», noch weniger genannt Bambi mit Bauchspeck. Mit Messi und Pelé ist er in den vergangenen Wochen verglichen worden. Und wiewohl solche Vergleiche nur schief und krumm sein können und ohnehin in einem superlativgeilen Eventgewerbe wie dem Fernsehsport nicht weiter ernst zu nehmen sind, so bleibt doch erstaunlich, was mit Luke Littler in den vergangenen Wochen passiert ist.

Noch vor Weihnachten war Luke Littler ein Nobody – in dieser Woche versuchte die britische Boulevardpresse seiner Freundin anzudichten, sie hätte sich nur wegen der Kohle für ihren Partner entschieden. Nationalheilige wie David Beckham und Luke Shaw meldeten sich bei Littler, ein viral ansteckendes Video grassierte durchs Internet, das den sehr frühen Littler in Windeln zeigt, Magnetpfeile auf eine Darts-Scheibe werfend. Er selbst vermass seine Entwicklung kurz vor dem Final in der derzeit gültigen Globalwährung der Aufmerksamkeitsökonomie: 4000 Follower habe er vor der WM auf Instagram gehabt, 520’000 seien es jetzt. Auch das aber nur ein Meilenstein, noch in der Nacht stieg der Wert auf 667’000.

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Darts-Rekordweltmeister Phil «The Power» Taylor sagte kürzlich über Littler, er sei der «beste Teenager, den ich je in meinem Leben gesehen habe». Wenn dieser Luke Littler demnächst seinen 17. Geburtstag gefeiert hat, wird seine Heldenreise weitergehen. «Chase the Sun», heisst der wichtigste Grölschlager im Ally Pally, ein als verdauliches Snippet gereichter Snack-Hit, dessen Melodie einem Stück von Ennio Morricone entlehnt wurde. Nach diesem Mittwochabend ist man neugieriger denn je, zu erfahren: Was wird aus Luke Littler bei seinem Versuch, die Sonne zu jagen?

Für den Moment aber ist es genug und schön, zu sehen, dass selbst in Zeiten strengsten Körperkults und Mindset-Gefasels jemand wie Luke Littler zum Mann der Stunde werden kann. Und es ist noch schöner, zu sehen, wie gelassen er bislang damit umgeht. Nach dem Final sagte der wohlgemerkt siegreiche Luke Humphries, er habe sich beeilen wollen, den Titel zu holen, bevor Littler den Sport sicher auf Jahre dominieren werde.

Und was sagte Littler auf die Frage, was er sich für die nächste WM vornehmen werde? Ganz einfach, sagte Littler, dasselbe wie für diese: «Ein Spiel gewinnen.»