Leser fragen Peter SchneiderDarf man ein Lied aus einem Nazifilm noch singen?
Die Antwort auf die Frage einer Leserin, ob ihre Singgruppe das berühmte Liebeslied «Davon geht die Welt nicht unter» aus dem Jahr 1942 aufführen soll oder nicht.
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In unserer Singgruppe gehört das Lied «Davon geht die Welt nicht unter» zu unserem Repertoire. Nun hat eine jüngere, «woke» Kollegin gemeint, Sie würde das Lied lieber nicht mehr singen, weil es doch aus dem Nazi-Propagandafilm «Die grosse Liebe» stamme und eines der beliebtesten Lieder Anfang der 40er-Jahre war. Ich bin nun wirklich ratlos! Meine erste Reaktion war: «Da kann man auch nie mehr eine Beethoven-Sinfonie spielen. Auch Musik kann man für alle möglichen Zwecke missbrauchen.» Wenn wir das Lied singen, dann unterstützen wir doch keine «nazistisches» Gedankengut! Auf welchen Grundlagen können wir denn diskutieren und entscheiden? C.M.
Liebe Frau M.
Auf der Grundlage von Kontext und Geschichte. Dass «Davon geht die Welt nicht unter» das bekannteste Lied aus einem der erfolgreichsten Nazi-Durchhaltefilme ist, ist so unbestreitbar wie bekannt. Wenn Sie sich auf Youtube die Szene anschauen, in der Zarah Leander dieses Lied vor einem schunkelnden Statistenpublikum aus Wehrmacht und SS singt, kann man sich kaum vorstellen, dieses Lied jemals wieder zu singen.
Ihr Beethoven-Argument fällt dagegen recht schwach aus: Mir ist nicht bekannt, dass Beethoven etwas komponiert hätte, bei dem von Anfang an Ge- und Missbrauch von Musik identisch waren. Davon abgesehen: Die Frage ist, ob es möglich ist, dieses Lied derart zu de- beziehungsweise rekontextualisieren, dass es wider Erwarten doch wieder singbar sein könnte. Und die Antwort lautet: Ja. Nicht zuletzt, weil der schon geschichtliche Kontext nicht genau das ist, wonach er aussieht, wenn man nur den genannten Videoclip kennt.
Unzählige Dragqueens haben in der Nachkriegszeit Leander-Lieder interpretiert. Warum also nicht auch Ihre Singgruppe?
Der Text des Liedes stammt von Bruno Balz, einem der erfolgreichsten deutschen Liedtexter schon in der Weimarer Republik, der sich bereits in den 1920er-Jahren in der Schwulenbewegung engagierte. 1936 kam er zum ersten Mal wegen einer Verurteilung nach dem § 175, dem sogenannten Schwulenparagrafen, ins Gefängnis. Frei kam er unter der Auflage, dass sein Name als Liedtexter nicht mehr genannt werden durfte.
Das Lied «Davon geht die Welt nicht unter» entstand 1941 nach einer erneuten Verhaftung und Folterung durch die Gestapo. Kurz vor seiner «Überstellung» in ein KZ hatte ihn der befreundete Komponist Michael Jary mithilfe der dreisten Lüge aus der Haft befreit, Goebbels selbst habe Balz als unentbehrlich für die Produktion des Propagandafilms mit Zarah Leander angefordert. Zarah Leander wiederum war nicht nur der Ersatz Hitlers für die emigrierte Marlene Dietrich, sie war während des Krieges wie danach eine der bedeutendsten Schwulenikonen. Unzählige Dragqueens haben in der Nachkriegszeit Leander-Lieder interpretiert. Warum also nicht auch Ihre Singgruppe?
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