Wirtschaftswachstum bricht einChina macht Schulden um jeden Preis
Die harten Corona-Massnahmen lassen die chinesische Wirtschaft gewaltig kriseln. Die Regierung versucht gegenzusteuern, indem sie Infrastruktur auf Pump ausbaut. Kann das funktionieren?
Wie eine graue Seeschlange zieht sich die Strasse zwischen Hongkong und Macau durch das chinesische Perlflussdelta. 2018 erst eröffnet, ist sie die längste Überwasserverbindung der Welt, aber derzeit quasi unbenutzt. Nur selten sieht man ein einsames Lieferfahrzeug durch die Tunnel unter Wasser verschwinden und auf den Brücken wieder auftauchen. Schuld daran sind die harten Reisebeschränkungen der chinesischen Regierung wegen der Corona-Pandemie.
Nicht nur auf chinesischen Strassen ist derzeit deutlich weniger los als noch vor einigen Monaten. Wegen Lockdowns in Dutzenden Städten nutzen auch viel weniger Menschen die Bahnhöfe und Flughäfen des Landes. Dennoch kündigt die Regierung Milliardeninvestitionen in Verkehrsinfrastruktur an. 80'000 Kilometer Autobahn und 30'000 Kilometer Hochgeschwindigkeitsschienen sollen bis 2035 hinzukommen.
Es wirkt, als folge die chinesische Regierung wieder einem Drehbuch, das sie eigentlich schon vor Jahren beiseitelegen wollte. Nachhaltigeres Wachstum, mehr Umweltschutz und weniger Staatsverschuldung hatte sich Staatschef Xi Jinping auf die Agenda geschrieben. Doch jetzt lautet die Anweisung aus Peking an Staatskonzerne und Provinzregierungen: Schulden machen und bauen, koste es, was es wolle. Der Erfolg der chinesischen Wirtschaftspolitik wird wie in alten Zeiten nur an der blanken Wachstumszahl gemessen.
«Mühsame Anstrengungen», um Wachstum zu retten
Und die ist für das gerade beendete zweite Quartal «ziemlich katastrophal», wie Max Zenglein vom Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin sagt. Nach offiziellen Angaben ist das Bruttoinlandsprodukt nur um 0,4 Prozent im Vorjahresvergleich gewachsen, deutlich schlechter als von Ökonomen erwartet. Das ist weit entfernt von den 5,5 Prozent Jahreswachstum, die die Regierung als Ziel ausgegeben hat.
Für die chinesischen Machthaber sind das keine guten Nachrichten, legitimiert die Kommunistische Partei ihren Führungsanspruch doch durch die ständige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und des Lebensstandards der Bürger. «Mühsame Anstrengungen» seien nötig, um das Wachstum zu retten, sagt Regierungschef Li Keqiang. Für Staatschef Xi Jinping ist die aktuelle Lage besonders heikel, da er sich im Herbst für eine dritte Amtszeit bestätigen und seine Politik auf unbestimmte Zeit festschreiben will.
Doch genau diese Politik hat die aktuellen wirtschaftlichen Probleme heraufbeschworen, wie Zenglein erklärt. Die chinesische Regierung befinde sich in einem «Zielkonflikt»: Sie will zum einen die Corona-Pandemie eindämmen, auf der anderen Seite jedoch die Wirtschaft wieder ankurbeln. «Die Erreichung des einen Ziels beeinträchtigt aber das andere», sagt der Ökonom.
Immerhin die Geschäfte mit dem Ausland laufen glänzend
Die ständigen (Teil-)Lockdowns in Wirtschaftsmetropolen wie Shanghai oder Shenzhen haben die Lieferketten nachhaltig durcheinandergebracht, und die Auswirkungen davon lassen sich selbst in Deutschland noch spüren. Der chinesischen Regierung bereitet das allerdings weniger Kopfschmerzen, laufen die Auslandsgeschäfte derzeit doch glänzend. Der kürzlich veröffentlichte Exportüberschuss für Juni ist mit knapp 100 Milliarden Dollar laut Nachrichtenagentur Bloomberg der zweitbeste seit 30 Jahren.
Mehr Sorgen bereiten der Regierung die eigenen Bürger: Diese wollen derzeit nicht so stark konsumieren wie noch in den vergangenen Jahren. Das sei verständlich, findet Taylor Loeb von der Analysefirma Trivium. «Wie geben die Menschen Geld aus, wenn sie in ihren Wohnungen eingeschlossen sind oder wenn sie sich Sorgen machen, dass dies jeden Moment passieren könnte?» Das Zukunftsvertrauen der Verbraucher und ihre Konsumausgaben sind wegen der strengen Corona-Beschränkungen stark abgesackt.
Doch statt sich, wie von Ökonomen wie Zenglein gefordert, auf die Verbraucher zu konzentrieren, greift die Regierung lieber den Firmen unter die Arme. Kleine Unternehmen und bestimmte Sektoren wie die Energiebranche, Fertigung und Transportfirmen erhalten Steuererleichterungen. Zahlreichen weiteren Firmen aus der Industrie und dem Dienstleistungssektor werden die Sozialabgaben gestundet. Auch Umweltziele müssen hintanstehen: Die Förderung von klimaschädlicher Kohle wird wieder angekurbelt, um die Energiepreise zu senken.
Kosten diese Massnahmen laut staatlichen Angaben von Anfang Juni bereits rund 250 Milliarden Dollar, fliesst nach Bloomberg-Berechnungen noch mal mehr als eine Billion Dollar in den Bau von Infrastrukturprojekten wie Strassen und Schienen.
Das Ausmass der gesamten Staatsverschuldung ist undurchsichtig
Das Geld dafür hat der chinesische Staat aber nicht, er muss es sich deshalb von den Finanzmärkten leihen. Im ersten Halbjahr betrug das Haushaltsdefizit aller Regierungsebenen laut Bloomberg-Berechnungen bereits die Rekordsumme von mehr als 750 Milliarden Dollar. Doch hier raten Analysten, wie bei den meisten Wirtschaftsdaten aus China, die Zahlen mit etwas Skepsis zu betrachten: Statt der Zentralregierung geben nämlich die lokalen Regierungen und Staatskonzerne die meisten Anleihen aus, was das Ausmass der gesamten Staatsverschuldung undurchsichtig macht.
Die staatliche Eisenbahngesellschaft hatte beispielsweise Ende vergangenen Jahres laut der Wirtschaftszeitung Nikkei bereits rund 900 Milliarden Dollar Schulden, das sind ungefähr fünf Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Seitdem hat die Regierung angeordnet, dass die Firma noch mal 45 Milliarden Dollar an Anleihen ausgeben soll, um den Streckenausbau zu finanzieren.
Analysten fragen sich allerdings, wie die Regierung all dieses Geld gewinnbringend ausgeben will. «Es gibt einfach nicht genug schaufelfertige Projekte», sagt Analyst Loeb. «Sie haben bereits all diese Hochgeschwindigkeitsstrecken, all diese Autobahnen, all diese klassischen Infrastrukturprojekte gebaut.» Er verweist auf den Infrastruktur-Boom nach dem letzten grossen Konjunkturpaket nach der globalen Finanzkrise von 2008. China ist seitdem stolzer Eigentümer des grössten Hochgeschwindigkeitsschienennetzes der Welt, aber auch einiger Geisterflughäfen und Brücken ins Nichts.
Westliche Leitzinsen schaffen Probleme
Auch in den Wohnungsbausektor, der ein Fünftel der chinesischen Wirtschaftsleistung ausmacht, hat die Regierung schon viel Geld gepumpt. Dieser ist dadurch sehr aufgebläht. Deshalb hat die Regierung in den vergangenen Jahren den hoch verschuldeten Wohnungsbauunternehmen den Kredithahn zugedreht. In der Folge gerieten immer mehr Immobilienentwickler wie Evergrande und jüngst Shimao in Zahlungsnöte. Auch viele Wohnungskäufer können ihre Darlehen nicht mehr bedienen, es droht eine Bankenkrise. Die chinesische Zentralbank hat zwar zuletzt den Geldhahn wieder etwas aufgemacht, indem sie den Leitzins für Immobilienkredite leicht senkte. Loeb zufolge zögert die Regierung jedoch noch, komplett zu den alten Zuständen des billigen Gelds zurückzukehren.
Analysten wie Zenglein vermuten deshalb, dass ein Grossteil der neuen Anleihen zum «Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden muss», die durch die Staatshilfen und Infektionsschutzmassnahmen entstanden sind. Zenglein warnt auch vor neuem wirtschaftlichen Unheil für China, wenn die Inflation in Europa und den USA die Nachfrage nach chinesischen Konsumgütern beeinträchtigt und die Exportüberschüsse zusammenschrumpfen.
Hinzu komme, dass viele Zentralbanken gerade die Leitzinsen angehoben haben, während das in China noch nicht der Fall ist. «Das erhöht das Risiko von Kapitalabflüssen», erklärt der Ökonom. «Es macht chinesische Staatsanleihen weniger attraktiv», könnte also die künftigen Finanzierungskosten für Peking in die Höhe treiben. So könnte es durchaus passieren, dass die vielen neuen Schulden der chinesischen Regierung bald auf die Füsse fallen.
«Das grösste Konjunkturpaket, das die chinesische Regierung machen könnte, wäre ein Abschied von der Zero-Covid-Politik», ist Zenglein überzeugt. «Dann würde der Dienstleistungssektor mehr in die Gänge kommen, und die Jobs würden sich von selbst kreieren.» Dass jemand in der chinesischen Regierung auf den Ökonomen hört, ist allerdings unwahrscheinlich.
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