US-Abzug aus AfghanistanChina hofiert die Taliban
Peking pflegt seit neuestem einen brüderlichen Umgang mit den radikalen Islamisten. Dem kommunistischen Regime ist der Fanatismus der Gotteskrieger aber nicht geheuer. Vor allem aufgrund der Muslime im eigenen Land.
Gut möglich, dass Mullah Abdul Ghani Baradar bei seinem Treffen mit dem chinesischen Aussenminister Wang Yi im Juli mit Genugtuung an die Person dachte, die nur zwei Tage zuvor an gleicher Stelle gesessen war. Die bisher ranghöchste US-Vertreterin der Biden-Regierung war erst nach Zankereien ums Protokoll ins nordostchinesische Tianjin geladen worden. Während Peking den Amerikanern gleich zwei Listen mit Klagepunkten mitgab, genoss Taliban-Führer Mullah Abdul Ghani Baradar einen herzlichen Empfang.
Mit buchstäblich ausgestreckten Armen hiess Wang ihn und acht weitere Mitglieder der Taliban-Delegation willkommen. Die Gruppe werde eine «wichtige Rolle beim friedlichen Prozess der Versöhnung und des Wiederaufbaus spielen», lobte Wang. Sie sei eine «zentrale militärische und politische Kraft».
Die aussergewöhnliche Anerkennung der Taliban durch China fällt in eine Zeit, in der die Taliban mehr als die Hälfte Afghanistans unter ihre Kontrolle gebracht haben. Umso verstörender wirkt Pekings brüderlicher Umgang mit den Taliban, während diese bei ihrem Eroberungszug brutal töten.
Peking hielt sich lange zurück
Lange hat sich Peking in Afghanistan zurückgehalten, liess die westlichen Akteure machen, solange diese für relative Stabilität sorgten. Nun der Kurswechsel. Doch hinter der neuen Politik Pekings steckt weniger Schadenfreude oder Opportunismus, die Not für sich zu nutzen, die der westliche Rückzug in Afghanistan verursacht hat. Vielmehr ist es die Sorge über das Szenario, das Chinas Regierung immer gefürchtet hat: nach 20 Jahren des Krieges ein vorschneller Abzug der USA, der die Stabilität einer ganzen Region gefährdet.
In einer Pressekonferenz am 29. Juli erklärt ein Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums in hartem Ton, die Fakten hätten erneut bewiesen, dass die USA der «weltgrösste Verursacher von Chaos» seien, die anderen stets die Schuld zuschöben. Washington sei verantwortlich für das Afghanistan-Problem und trage eine unausweichliche Verantwortung für die aktuelle Situation, mahnte der Sprecher. «Die USA können sich dem Chaos nicht entziehen und die Verantwortung an andere Länder in der Region abtreten.» Sie seien für einen reibungslosen Übergang in Afghanistan verantwortlich. Mitte Juli versprach Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani chinesische Unterstützung für Frieden und Versöhnung im Land sowie einen schnellen Wiederaufbau.
Wichtigste Doktrin Pekings ist die Nichteinmischung
Für Peking sind die Taliban alles andere als ein Wunschpartner. Ein Bürgerkrieg destabilisiert das Land weiter, schon jetzt sind Tausende auf der Flucht. Die Nachbarländer Pakistan und der Iran bieten bereits Hunderttausenden Afghanen Schutz. Die Absichtserklärungen der Taliban, sich mit der afghanischen Regierung zu arrangieren, dürfte man in Peking ebenso wenig Glauben schenken wie anderswo. Ihr religiöser Fanatismus ist dem kommunistischen Regime nachweislich nicht geheuer.
Gleichzeitig spiegelt die diplomatische Offensive eine Fähigkeit Pekings wider, die das Land bereits vielfach bewiesen hat: die Realität anzuerkennen. Und diese dürfte kaum noch jemand bestreiten – die afghanische Regierung verliert die Kontrolle über das Land, womöglich für immer. Der Rest ist chinesischer Pragmatismus. Die wichtigste aussenpolitische Doktrin Pekings, die Politik der Nichteinmischung, hilft bei diesem nüchternen Blick. Gleichzeitig ist Peking getrieben von der Angst, dass die Gewalt nach China überschlagen könnte. Nach blutigen Anschlägen im eigenen Land hat Peking den Kampf gegen die «drei bösen Kräfte» ausgerufen – Separatismus, religiöser Extremismus und Terrorismus. Damit rechtfertigt das Regime die andauernde Überwachung, Unterdrückung und Internierung Hunderttausender Uiguren in Xinjiang.
Militäreinsatz unwahrscheinlich
Chinas Sorge ist, dass ethnische Uiguren in Afghanistan, aber auch andere Muslime, die sich für die Verfolgung ihrer Glaubensbrüder rächen wollen, von der benachbarten Provinz Badakhshan über die 76 Kilometer lange Grenze nach Xinjiang reisen und dort Anschläge verüben könnten. Laut Peking sollen bereits in der Vergangenheit religiöse Extremisten in Afghanistan Zuflucht gefunden haben. Auch andere Akteure in der Region sehen die Gefahr, dass die Taliban jihadistische Terrorgruppen beherbergen könnten. In diesem Punkt war der Besuch der Taliban-Delegation in Tianjin für Peking ein Erfolg: Vizechef Mullah Abdul Ghani Baradar sicherte Peking zu, niemals Kräfte im Land zuzulassen, die entgegen Chinas Interessen handelten.
Für Peking steht viel auf dem Spiel. Seit Jahren weitet es seinen Einfluss in der Region aus. 60 Milliarden US-Dollar hat China ins benachbarte Pakistan investiert. In Afghanistan gilt ein militärisches Eingreifen bisher als höchst unwahrscheinlich. Langfristig aber dürfte China über eine Ausweitung seiner Investitionen auf Afghanistan nachdenken. Ein Angebot, das es bisher noch beiden Konfliktparteien im Land macht.
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