Kommentar zum Solo für den DetailhandelCassis hat eine rote Linie überschritten
Der Aussenminister macht sich zum willigen Gehilfen der Wirtschaftslobby. Auch wenn er scheiterte – der Schaden für den Bundesrat ist angerichtet. Seine Glaubwürdigkeit steht infrage.
Das Manöver war beeindruckend. Innert weniger Tage haben die grossen Wirtschaftsverbände, Spitzenvertreter von SVP und FDP und sogar einige Deutschschweizer Kantone eine mächtige Drohkulisse aufgebaut. Der Bundesrat müsse den gesamten Detailhandel schon am nächsten Montag öffnen, forderten sie. Koste es, was es wolle.
Der entscheidende Coup folgte erst am Dienstagabend: Aussenminister Ignazio Cassis, bisher kaum spürbar in der Corona-Krise, brachte das Anliegen der Wirtschaftsallianz als williger Gehilfe in den Bundesrat ein. Der einstige Tessiner Kantonsarzt setzte sich damit nicht nur über die einhellige Empfehlung der Kantonsärzte und Gesundheitsdirektoren hinweg. Er stellte auch das gesamte Öffnungskonzept infrage, das der Bundesrat in der Vorwoche beschlossen hatte. Damals noch mit Cassis’ Unterstützung.
Wer mit Notrecht regiert, muss sich ganz besonders bemühen, seine Politik am Landesinteresse auszurichten, nicht an den Begehrlichkeiten von Lobbys.
Cassis’ Antrag fiel durch: sechs zu eins. Selbst die SVP-Magistraten lehnten die Blitzöffnung des Detailhandels ab. Trotzdem ist der Schaden beträchtlich. Der Aussenminister hat mit seiner qualifizierten Unkollegialität die angespannte Situation im Bundesrat weiter belastet.
Gravierender noch ist aber die Aussenwirkung: Dass die Corona-Einschränkungen in der Schweiz gut akzeptiert wurden, verdankt der Bundesrat seiner Glaubwürdigkeit und einer auf klaren gesundheitlichen Prämissen basierenden Strategie. Aber Glaubwürdigkeit ist ein flüchtiges Gut. Eine Regierung, die die Gewaltenteilung ausser Kraft setzt und mit Notrecht regiert, muss sich ganz besonders darum bemühen, ihre Politik nach dem Interesse des Landes auszurichten, nicht nach den Begehrlichkeiten irgendwelcher Lobbys.
Cassis hat mit seinem Botendienst für die Wirtschaft eine rote Linie überschritten. Der Gesamtbundesrat wird teuer dafür bezahlen müssen. Bei jedem Entscheid wird fortan der Zweifel mitschwingen, ob sich da gerade eine Lobby ein Privileg sichert. Denn das Gefeilsche, das Lobbying, die rücksichtslose Durchsetzung von Partikularinteressen hat wieder angefangen. Auch dort, wo all dies schon in normalen Zeiten nicht hingehört. Im Bundesratszimmer.
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