Abstimmung über ZuwanderungBundesrätin Keller-Sutter erhöht Einsatz gegen SVP-Initiative
Schon zum zweiten Mal hat Justizministerin Karin Keller-Sutter den Abstimmungskampf gegen die Kündigungsinitiative eröffnet. Diesmal bot sie jedoch eine breite Koalition der Unterstützer auf.
Es ist eine aussergewöhnliche Kampagne für eine aussergewöhnliche Abstimmung, zu der Bundesrätin Karin Keller-Sutter am Montagmorgen in Bern den Startschuss gab: Es ist bereits der zweite Kampagnenauftakt der Justizministerin. Eigentlich war der Volksentscheid über die Initiative der SVP zur Kündigung der Personenfreizügigkeit für den 21. Mai vorgesehen, im Februar hatte Keller-Sutter den Abstimmungskampf eröffnet. Die Corona-Pandemie unterbrach jedoch das politische Leben, der Urnengang über die Begrenzungsinitiative, wie die SVP sie nennt, wurde auf den 27. September verschoben.
Diesmal gestaltete Keller-Sutter den Auftakt neu. Statt mit einem Vertreter der Kantone trat sie flankiert von je zwei Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften auf. Sie zelebrierte damit den Schulterschluss zwischen den Sozialpartnern, die sich zuvor jahrelang in den Haaren gelegen waren. Das hatte massgeblich dazu beigetragen, dass die SVP 2014 einen ähnlichen Abstimmungskampf über die Zuwanderung gewinnen konnte: Mit einer knappen Mehrheit von 50,3 Prozent sagte das Volk damals Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, entgegen der Empfehlung von Parlament und Bundesrat, knapp 20’000 Stimmen gaben den Ausschlag.
Der Einfluss der Männer zwischen 50 und 60
Eine solche Schmach will Keller-Sutter nicht erleiden, wie sie am Montag klarmachte. Sie zeigte auf die Gewerkschafter und Wirtschaftsvertreter zu ihrer Seite und sagte: «2014 haben Sie dieses Bild nicht gesehen, die Sozialpartner waren gespalten.» Diesmal hingegen kämpfen beide vereint mit Keller-Sutter gegen die Kündigungsinitiative der SVP. Das geht so weit, dass Gewerkschafter und Arbeitgeber im offiziellen Mediencommuniqué des Justizdepartements zitiert und als Kontakte aufgeführt wurden.
Allerdings geht es dabei nicht nur um eine symbolische Allianz. Vielmehr hat sich inhaltlich einiges bewegt seit 2014, wie Keller-Sutter erläuterte. Damals drehte sich die Diskussion unter anderem darum, wie Schweizer auf dem Arbeitsmarkt unter Druck gerieten. «Die Männer zwischen 50 und 60, die sich nicht privilegiert fühlten, haben die Abstimmung entschieden», sagte Keller-Sutter. Um dem entgegenzuwirken, habe der Bundesrat ein Paket mit sieben Massnahmen beschlossen, etwa für die Weiterbildung und Begleitung von Arbeitslosen über 50, damit diese wieder eine Stelle fänden.
Am vergangenen Freitag schliesslich hat das Parlament ein neues Sicherheitsnetz aufgespannt: Fallen 60-Jährige trotzdem aus dem Arbeitsmarkt, erhalten sie eine Überbrückungsleistung bis zum Rentenalter, damit sie keine Sozialhilfe beanspruchen müssen.
Freie Wirtschaft nur mit sozialem Ausgleich
Keller-Sutter erklärte diese staatlichen Eingriffe mit sehr grundsätzlichen Überlegungen: Wiewohl eine liberale Politikerin, sei sie trotzdem überzeugt, dass sich der freie Handel in der globalisierten Welt nur aufrechterhalten lasse, wenn es einen sozialen Ausgleich gebe. Die Personenfreizügigkeit führe in anderen Ländern zu grösserer Ungleichheit, und sie verschärfe auch in der Schweiz die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Darum sei etwa ein funktionierender Lohnschutz unabdingbar.
In diese Kerbe hauen auch die Gewerkschaften: Nur dank der Personenfreizügigkeit existierten die flankierenden Massnahmen, welche gute Löhne und Arbeitsbedingungen garantierten, sagte Pierre-Yves Maillard, SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Eine Annahme der Kündigungsinitiative gefährde Arbeitsplätze und Lohnschutz: «Wir wollen die Regulierung des Arbeitsmarkts nicht schwächen, sondern stärken», so Maillard.
Gefahr für das Gewerbe
Auch die Arbeitgeber bekennen sich nun ohne weiteres zu den flankierenden Massnahmen – was keine Selbstverständlichkeit ist, nachdem sie diese jahrelang mehr geduldet als akzeptiert hatten. Die Reallöhne seien dank der Personenfreizügigkeit im Durchschnitt um 0,7 Prozent jährlich gewachsen, zuvor seien es nur 0,2 Prozent gewesen, sagte Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands.
Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler betonte, die Initiative sei gefährlich für die kleinen und mittleren Unternehmen, die KMU. Bei Annahme der Initiative drohen sieben Verträge, die als Bilaterale 1 bekannt sind, wegzufallen, möglicherweise auch die Schengen- und Dublin-Abkommen. Damit sei der Zugang zum EU-Binnenmarkt infrage gestellt. Dieser aber sei überlebenswichtig für die KMU, das «Rückgrat der Schweizer Wirtschaft», die deutlich mehr ältere Arbeitnehmer beschäftigten als grosse Konzerne.
«Wenn man diese Krise verschärfen will, kappen wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt.»
Die Corona-Rezession spreche eben gerade nicht für eine Annahme der Kündigungsinitiative, sondern für deren Ablehnung, betonte Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsverbands Travailsuisse. Bei einem Ja würde der aktuelle konjunkturelle Abschwung in eine strukturelle Krise übergehen, mit einer «länger dauernden Phase hoher Arbeitslosigkeit».
Vor einem solchen «Experiment» warnte auch Bundesrätin Keller-Sutter: Es wäre «eigenartig», zuerst Corona-Nothilfe in Milliardenhöhe ins Überleben der Unternehmen zu investieren, danach aber die Kündigungsinitiative anzunehmen, sagte sie: «Wenn man diese Krise verschärfen will, kappen wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt.»
SVP: «Völlig unhaltbar»
SVP-Kampagnenleiterin Esther Friedli kritisiert die Justizministerin scharf. «Bundesrätin Keller-Sutter bietet den Gewerkschaften und den Arbeitgebern mit Steuergeldern eine Plattform. Das ist völlig unhaltbar», sagt die St. Galler Nationalrätin. «Es ist völlig daneben, dass sich der Bundesrat so stark in den Abstimmungskampf einmischt und Keller-Sutter schon wieder unzählige Abstimmungsauftritte plant.»
Sie sei auch massgeblich daran beteiligt gewesen, dass das Parlament quasi als Gegenvorschlag zur SVP-Initiative die Überbrückungsleistung beschlossen hat. «Wie viel die Entlassungsrente kosten wird, kann der Bundesrat nicht einmal sagen. Auf Kosten der Steuerzahler wird somit der teuerste Abstimmungskampf aller Zeiten geführt», sagt Friedli. Über das eigene Budget gibt sie indes keine Auskunft.
Die Kampagne der SVP wird erst nach den Sommerferien starten. Sie wolle den Finger auf Probleme legen, «welche die normalen Leute jeden Tag belasten: der Druck am Arbeitsplatz durch die Zuwanderung, die überlastete Infrastruktur, die masslose Zubetonierung des Landes, die Kostenexplosion bei den Sozialwerken». Den Gewerkschaften wirft Friedli vor, an den Arbeitsmarktkontrollen Millionen zu verdienen.
Die Arbeitgeber wiederum würden die Personenfreizügigkeit ausnutzen und ältere Schweizer durch jüngere und billigere EU-Arbeitnehmer ersetzen. «Rund um uns herum steigt die Arbeitslosigkeit markant, es gibt bereits Unruhen – auch wegen unkontrollierter Zuwanderung in diesen Ländern», sagt Friedli. «Also werden noch mehr EU-Ausländer in die Schweiz kommen, um hier eine Arbeit oder einen Platz in unserem gut ausgestatteten Sozialsystem zu suchen.»
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