Flucht vor den TalibanSchweizer Mitarbeitende sollen Kabul rasch verlassen
Der Bund ruft alle Schweizer Staatsangehörige des Deza-Büros aus der Hauptstadt zurück. Das lokale Personal erhält ein humanitäres Visum.
Die Staatssekretärin des EDA, Livia Leu, der Staatssekretär für Migration, Mario Gattiker, sowie die Direktorin der Deza, Patricia Danzi, informierten in Bern über die aktuelle Lage in Afghanistan. Die Situation dort ist dramatisch, nachdem die militant-islamistischen Taliban mit ihrem Eroberungszug der Hauptstadt Kabul immer näher gekommen sind. (Lesen Sie und hören Sie zum Thema auch: Wird Afghanistan zum neuen Vietnam?)
Die Schweiz holt aus Sicherheitsgründen die noch drei verbliebenen von insgesamt sechs Schweizer Mitarbeitenden des EDA aus Afghanistan zurück in die Schweiz. 38 langjährige lokale Mitarbeitende der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und ihre Familien erhalten ein humanitäres Visum. «Wir sind sehr besorgt. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich täglich», sagte Leu. Deshalb werden die Mitarbeitenden des EDA nach Hause beordert. «Sie sollen Kabul so rasch wie möglich verlassen», erklärte die Staatssekretärin.
Lokale Mitarbeitende erhalten Asyl
Die 38 lokalen Mitarbeitenden der Deza in Afghanistan und ihre Kernfamilien werden ebenfalls in die Schweiz fliegen. Sie erhalten ein humanitäres Visum. Es dürfte sich insgesamt um 200 Personen handeln, erklärte Mario Gattiker, Staatssekretär beim Staatssekretariat für Migration (SEM). Diesen Entscheid habe Justizministerin Karin Keller-Sutter gefällt.
Die lokalen Mitarbeitenden reisen im Rahmen des Resettlement-Programms des UNHCR in die Schweiz und erhalten Asyl. Weil sie für die Schweiz arbeiteten, bestehe die Gefahr, dass sie als Kollaborateure des feindlichen Westens angesehen werden und verfolgt würden, sagte Gattiker.
Eine Botschaft hat die Schweiz in Kabul nicht, sondern diese befindet sich in Islamabad in Pakistan. Laut Leu ist derzeit noch eine Schweizerin oder ein Schweizer in Afghanistan als reisende Person registriert.
Keine Rückführung straffälliger Asylsuchender
Am Mittwoch hatte das SEM mitgeteilt, dass die Schweiz bis auf weiteres keine Rückführung abgewiesener Asylsuchender nach Afghanistan mehr durchführt. Es würden auch keine neuen Wegweisungen verfügt. Einzig bei schwer straffälligen Personen würden die Vorbereitungen für eine Rückführung weitergeführt. Anders als noch am Mittwoch erklärte Gattiker nun, dass auch straffällige Asylsuchende nicht zurückgeführt würden. Die afghanischen Behörden würden derzeit keine Staatsangehörigen zurücknehmen.
Afghanistan hatte die Schweiz bereits Anfang Juli gebeten, wegen der schwierigen Sicherheitslage und der Corona-Pandemie vorerst keine Rückführungen mehr durchzuführen. Die Schweiz hielt lange an Rückführungen fest.
Schweizer Engagement wird fortgesetzt
Obwohl das Personal des Kooperationsbüros der Deza zurückgeholt werde, bleibe das Engagement der Schweiz aufrecht, sagte Deza-Direktorin Patricia Danzi.
Die humanitären Partnerorganisationen der Schweiz würden ihre Arbeit in Afghanistan fortführen. Es werde in nächster Zeit in Afghanistan, aber auch in den Nachbarstaaten Unterstützung brauchen. Man werde nun prüfen, wie die Schweiz in Afghanistan und in der ganzen Region am besten helfen könne.
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit dem Abzug der internationalen Truppen Mitte April dramatisch verschlechtert. Die militant-islamistischen Taliban haben inzwischen mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Kandahar, der zweitgrösste Stadt des Landes, befanden sich die Taliban zuletzt wenige Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.
Amnesty und Flüchtlingshilfe für vorläufige Aufnahme von Afghanen
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe und Amnesty International begrüssen den Entscheid der Schweiz, Rückführungen nach Afghanistan bis auf weiteres auszusetzen, wie sie am Freitag auf Anfrage mitteilten. Gleichzeitig fordern sie, dass afghanischen Staatsangehörigen mit abgelehnten Asylgesuchen eine vorläufige Aufnahme gewährt wird.
«Es ist stossend, dass man Menschen, die über längere Zeit nicht nach Afghanistan zurückgeschickt werden können, nicht zumindest eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz bietet», sagte Beat Gerber, Sprecher von Amnesty International der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Man kann die Menschen nicht über lange Zeit in der Nothilfe lassen, es wäre nötig, ihnen einen Aufenthaltsstatus zu geben, damit sie ein normales Leben führen können.»
Menschen jetzt nach Afghanistan zurückzuschicken, wäre laut Gerber zurzeit weder zumutbar noch völkerrechtlich zulässig, unabhängig davon, ob es sich um Straffällige handle oder nicht.
Gemäss Gerber ist es zu begrüssen, dass die Schweiz ihr Personal in Afghanistan und das lokale Personal mit seinen Familien in die Schweiz hole. Nötig sei aber auch, dass die Schweiz die Nachbarländer Afghanistans bei der Bewältigung der sich abzeichnenden Flüchtlingsbewegungen unterstütze.
Amnesty International und die Flüchtlingshilfe (SFH) fordern weiter, dass die Schweiz Familienangehörigen von Afghaninnen und Afghanen mit Asyl oder vorläufiger Aufnahme hierzulande eine erleichterte Erteilung von humanitären Visa gewährt oder besonders verletzlichen Menschen über das Resettlement-Programm die Einreise in die Schweiz ermöglicht.
/fal
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