Kampf um AfghanistanTaliban erreichen Kabul
Am Sonntag setzen die Taliban ihren Vormarsch fort: Nach dem Fall von Jalalabad rückt die radikalislamischen Miliz nun in die Hautpstadt vor.
In Afghanistan haben die Taliban nach Angaben des Innenministeriums den Angriff auf die Hauptstadt Kabul gestartet. Bewohner von Aussenbezirken der Hauptstadt sagten am Sonntagmorgen der Nachrichtenagentur AFP, Kämpfer der Islamisten seien in der Stadt.
Im Widerspruch dazu hat ein Taliban-Sprecher gemäss der Nachrichtenagentur AFP erklärt, die Kämpfer hätten Anordnung, an den Toren der Stadt zu halten und nicht nach Kabul vorzudringen.
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Die radikalislamischen Taliban hatten zuletzt auch die ostafghanische Stadt Jalalabad eingenommen. Die Hauptstadt der Provinz Nangarhar sei kampflos an die Taliban gegangen, sagten Bewohner von Jalalabad am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP und bestätigten damit entsprechende Behauptungen der Taliban in Online-Netzwerken. Damit ist die Hauptstadt Kabul die letzte grosse Stadt des Landes, die nicht von der radikalislamischen Miliz kontrolliert wird.
«Wir sind heute morgen mit lauter weissen Fahnen für die Taliban in der ganzen Stadt aufgewacht», sagte Ahmad Wali aus Jalalabad.
Am Samstagmorgen habe es Gefechte um Maidan Schar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer westlich von Kabul gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Grossteil der Bezirke in der Provinz.
Landesweit setzten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und Regierungstruppen in mindestens fünf Provinzen fort. Auch Mazar-i-Sharif, wo die Deutsche Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, wurde eingenommen.
Die Taliban versuchten am Samstagmorgen in die Stadt im Norden einzudringen, konnten nach Angaben örtlicher Politiker zunächst zurückgedrängt werden. Später habe wurde die Taliban-Fahne gehisst.
Präsident Ghani hält Ansprache im TV
Am Samstag konnten die Islamisten zudem die mittlerweile 19. der 34 Provinzhauptstädte des Landes übernehmen. Scharana mit seinen geschätzt 66’000 Einwohnern in der Provinz Paktika im Südosten des Landes sei nach Vermittlung Ältester kampflos an die Taliban gegangen, bestätigten drei lokale Behördenvertreter. Im Osten wurden Kämpfe um die Provinzhauptstädte von Paktia und Kunar gemeldet. Diese Woche fielen mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten.
Der afghanische Präsident Aschraf Ghani sagte in einer kurzen TV-Ansprache am Samstag, er wolle nicht, dass weiter das Blut unschuldiger Menschen in Afghanistan vergossen werde. Er habe Konsultationen mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern abgehalten und wolle die Ergebnisse seinen Landsleuten «bald» mitteilen.
Militärische Reaktion nicht ausgeschlossen
Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte verlegen sofort rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hiess es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1000 nach Katar – für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit).
Sollten die Taliban US-Personal in Afghanistan gefährden, droht US-Präsident Joe Biden mit «einer raschen und starken militärischen Reaktion». Das habe er Vertretern der Taliban in Doha in Katar ausrichten lassen, hiess es in einer Mitteilung des US-Präsidenten am Samstag. Das gelte für «jede Aktion der Taliban vor Ort in Afghanistan, die das US-Personal oder unsere Mission dort gefährdet».
Gleichzeitig wies der US-Präsident Streitkräfte und Nachrichtendienste an, «dafür zu sorgen, dass wir die Fähigkeit und die Wachsamkeit aufrechterhalten, künftigen terroristischen Bedrohungen aus Afghanistan zu begegnen». Mit Blick auf die Evakuierung von afghanischen Helfern, die den US-Truppen während des Einsatzes geholfen hatten, erklärte Biden: «Wir arbeiten daran, Tausende von Menschen, die unsere Sache unterstützt haben, und ihre Familien zu evakuieren.»
Die Lage wird immer unübersichtlicher
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. «Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe», sagte eine Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UNO-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.
Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Firus Koh in der Provinz Ghor, Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul. Drei Grossstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Mazar-i-Sharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.
In Kandahar hatte es mehr als drei Wochen lang schwere Zusammenstösse zwischen der Regierung und den Taliban gegeben, bevor die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Freitag die zweitgrösste Stadt des Landes räumten, wie der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin sagte, der die Provinz im Parlament vertritt.
Die Regierungstruppen hätten schliesslich die wichtigsten Behörden verlassen und im 205. Armeekorps der Provinz Zuflucht gesucht. Kandahar mit seinen mehr als 650’000 Einwohnern ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und das wirtschaftliche Zentrum des Südens. Sie war auch Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Die Stadt diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.
Auch Lashkar Gah in der Provinz Helmand war seit Wochen schwer umkämpft. Viele Afghanen gingen aufgrund der heftigen Angriffe davon aus, dass sie die erste wichtige Stadt sein werde, die an die Islamisten fällt. Als die Regierung Ende Juli nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke in der Stadt mit geschätzt 200’000 Einwohnern hielt, wurden aus Kabul noch einmal Spezialkräfte entsandt. Diese schafften es mit Unterstützung durch viele Luftangriffe der afghanischen und der US-Streitkräfte zunächst, die Lage zu stabilisieren, wobei aber auch etwa ein Krankenhaus und eine Universität getroffen wurden.
Nach anhaltenden schweren Angriffen und dem Einsatz auch von Autobomben gegen das noch von der Regierung gehaltene Polizeihauptquartier allerdings wendete sich die Situation in der Nacht zu Freitag zugunsten der Taliban. Der Provinzrat Abdul Madshid Achundsada sagte am Freitagmorgen (Ortszeit), die Taliban hätten die gesamte Stadt eingenommen. Der Kommandeur des 205. Armeekorps, Sami Sadat, sei mit dem Gouverneur ausgeflogen worden. Restliche verbliebene Sicherheitskräfte hätten die Stadt auf dem Landweg verlassen
Am Donnerstag alleine konnten die Islamisten drei Städte einnehmen – darunter die drittgrösste Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Gasni, die nur 150 Kilometer von Kabul entfernt liegt.
AFP/SDA/roy/fal
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