Kolumne «Miniatur des Alltags»Büchse der Kindheit
Ravioli aus der Konservendose sind das älteste Fertiggericht der hiesigen Nahrungsmittelindustrie. Ich verknüpfe viele Kindheitserinnerungen damit.
Es war für mich als Kind jeweils ein Highlight, wenn es wieder einmal Büchsenravioli gab – anstatt langweilige Gemüsesuppe, Omeletten oder Geschnetzeltes mit Rösti. Nicht, dass dies oft der Fall gewesen wäre. Aber wahrscheinlich haben wir Kinder sie genau darum so geliebt. Das hat unseren Eltern einen ihrer peinlicheren Momente beschert.
Es war in einem schönen Hotel, mein Bruder und ich waren noch zu klein, um abends im Speisesaal mitzuessen. Die Küche war sehr willens, für uns Kinder etwas zu kochen, damit wir im Zimmer essen konnten. Es muss ein Vorschlag wie «pasta fatta in casa» mit Tomatensauce gewesen sein, und ja, Ravioli seien möglich. Es erschien uns wie ein Sakrileg – hausgemachte Ravioli? «Wir wollen Büchsenravioli!» Ich weiss nicht, wessen Gesicht am längsten war – meins? Das des Kochs? Oder das meiner Mutter, die in einer mission impossible zu vermitteln versucht hat?
Als ich Jahre später, selbst Mutter geworden, in einem Geschäft zufällig Büchsenravioli entdeckte, war ich geradezu elektrisiert. Endlich wieder einmal richtige Ravioli! Geradezu andächtig wärmte ich die Ravioli zu Hause auf. Während die unverkennbare Sauce um die Ravioli in der Pfanne zu blubbern begann, bereitete ich mich auf einen Proust’schen Erinnerungsmoment vor. Anstatt ins Madeleine würde ich in ein Ravioli beissen und das Geschmackserlebnis mich schlagartig in die Kindheit zurückversetzen… Gekommen ist es anders. Anstatt eines Proust-Moments hatte die Degustation ein langes Gesicht zur Folge. Zu gross war die Diskrepanz zwischen dem erinnerten und dem tatsächlichen Geschmackserlebnis.
Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich kürzlich am Plakat «Chindheit i de Büchs» vorbeigefahren bin. Das hat mir nämlich ganz unverhofft einen Proust-Moment bereitgehalten. Ganz ohne Geschmackserlebnis.
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