Kolumne «Miniatur des Alltags»«Ich wott s Chrischtchindli gseh!»
Das Weihnachtsfest naht. Bei vielen Kindern steigt jetzt die Vorfreude auf die Bescherung. In meiner Kindheit war etwas anderes wichtiger als alle Geschenke.
Richterswil in den 60er-Jahren. Heiligabend. Weihnachtslieder erklingen aus dem Radio. Eigentlich könnte jetzt Friede und Freude herrschen. Doch die Stimmung in meiner Familie ist gedrückt. Mausi, die Katze der Grossmutter, hatte tagsüber plötzlich versucht, den Christbaum raufzuklettern. Doch sie rechnete nicht mit unserem Vater, der die Katze flugs beim Schwanz packte, vom Baum runterriss und durch die Luft wirbelte. Die Katze schrie. Und anschliessend auch die Grossmutter. «Das arme Tier, das hätte jetzt wirklich nicht sein müssen», tadelte sie meinen Vater.
Nur noch das Christkind konnte jetzt die Stimmung heben. Dieses Mal wollte ich es unbedingt sehen, dieses überirdische Wesen, das allen Kindern auf dieser Welt die Geschenke bringt. Wie es diese logistische Meisterleistung wohl hinbekommt? Ich wusste es nicht. Umso mehr zog mich diese Gestalt ganz in ihren Bann.
Enttäuschung pur
Am frühen Abend war es dann so weit. Die Warterei im Kinderzimmer hatte ein Ende. Denn von der Stube her war ein Glöcklein zu hören. Es war das Zeichen, dass das Christkind uns Kindern soeben die Geschenke gebracht hatte – und wir nun unsere Zimmer verlassen durften. Ich stürmte als Dreikäsehoch gleich als Erster raus, rannte vorbei am Gabentisch und meinen verdutzt wirkenden Eltern und rief: «Ich wott s Chrischtchindli gseh!»
Sodann riss ich die Badezimmertür auf, kletterte auf die Toilette, öffnete das WC-Fenster und schaute mit grossen Augen in die stockdunkle Nacht. Enttäuschung pur. Keine Spur mehr vom Christkind. «Es ist halt ganz rasch zu den andern Kindern geflogen», versuchte mich mein Vater zu trösten. Vergeblich. An diesem Abend hätte mich nur noch das Chrischtchindli selber aufmuntern können.
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