«Brief an Amerika»Bin Ladens neue Freunde in Amerika
Der «Guardian» depubliziert einen Text von Osama bin Laden aus dem Jahr 2002, in dem er 9/11 rechtfertigt. Der Grund: Bei TikTok trendet der von Antisemitismus durchsetzte Text – und junge Amerikaner haben auf einmal Verständnis für al-Qaida.
Lynette Adkins ist geschockt. In einem Tiktok-Video schaut sie aufgelöst in die Kamera, alle, so sagt sie, sollten sofort mit dem aufhören, was sie gerade tun, und einen Brief lesen. «Ich glaube, ich habe gerade eine existenzielle Krise», sagt Adkins.
Adkins ist eine Content-Creatorin auf TikTok, bei Instagram und Youtube. Das heisst konkret, sie erzählt von ihrem Leben in Los Angeles, von Yoga-Kursen in Indien. Der Grund für ihre Krise am 15. November 2023 ist ein Brief aus dem Jahr 2002, er heisst «Letter to America» und der Autor ist Osama bin Laden; ehemals Kopf der Terrorgruppe Al-Qaida, Erzfeind der USA, bei einer Kommandoaktion in Pakistan 2011 von US-Eliteeinheiten getötet.
In dem Text rechtfertigt bin Laden die Anschläge vom 11. September 2001: Die US-Regierung und ihre Nahost-Politik seinen schuld, ebenso wie die Bürger der USA, die diese schliesslich mit ihren Steuergeldern finanzierten. Und schuld seien ausserdem die Juden, die die Medien, das Kapital und die USA kontrollierten und die einen Genozid an den Palästinensern verübt hätten. So weit, so verschwurbelt.
Dieser Text geht auf TikTok viral, seit Adkins dazu aufgerufen hat, ihn zu lesen. Millionen Menschen haben ihre Videos dazu gesehen, auch andere Accounts rufen dazu auf, den Brief zu lesen, er sei «eye-opening». Die britische Zeitung Guardian, die den Text 2002 zu Dokumentationszwecken im Wortlaut veröffentlicht hatte, hat den Text inzwischen depubliziert. Dem Text fehle die kritische Einordnung, erklärte ein Sprecher. Das heizte den Hype aber nur weiter an. Der Guardian wolle verhindern, dass die Menschen die Wahrheit erfahren, über die USA, Israel und die Juden, raunten einige in den Kommentarspalten. Und dann schaltete sich auch noch der berühmte chinesische Künstler Ai Weiwei ein. Bei Instagram schrieb er, bin Laden habe «korrekterweise» die USA beschuldigt, Israel bei «der ethnischen Säuberung Palästinas» unterstützt zu haben. Eine Diskussion darüber habe der Guardian verhindern wollen.
Unabhängig davon, dass der Text natürlich weiterhin auffindbar ist im Internet, wirft er natürlich eine Frage auf. Warum interessieren sich Millionen Menschen, vor allem junge, für die Ansichten eines Terroristen, der für die Anschläge in New York und Washington, für das Trauma von 9/11 verantwortlich war?
Viele Nutzer in den USA teilen das Video vor allem deshalb, weil sie das erschüttert glauben, was sie davor über die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon gedacht haben. «Wir wurden unser ganzes Leben angelogen», schreibt ein User. Bin Laden hält in seinem Brief den USA deren Nahost-Politik der 90er-Jahre vor: die Ausweitung der Militärpräsenz in der Region, die Blockade des Irak von 1990 an, die Intervention im somalischen Bürgerkrieg 1993, die Unterstützung Israels. Die Anschläge seien die Rache dafür gewesen, heisst es in dem Brief – eine gerechtfertigte Massnahme gegen eine angebliche Unterdrückung der Muslime durch die USA. Bin Laden schreibt aber auch über den unmoralischen, turbokapitalistischen Westen, der versinke in «Unzucht, Homosexualität (…) und Zinshandel» und über «die Juden», die kein historisches Recht hätten auf eigenes Land.
Bin Laden wird zwölf Jahre nach seinem Tod zum Freiheitskämpfer verdreht
9/11 nicht als Terroranschlag mit 2996 Todesopfern, sondern als Akt eines Befreiungskämpfers, Osama bin Laden nicht als Terrorist, sondern als antikapitalistischer und offen antisemitischer Denker: Das fällt bei vielen linken TikTokern auf fruchtbaren Boden.
Der Hype um Bin Ladens Brief platzt hinein in die Diskussion, wie denn das Verhältnis der USA zu Israel aussehen soll. Bei Demokraten und Republikanern herrscht weitgehend Einigkeit darüber, solidarisch zu sein mit Israel. Bei den jungen Amerikanern aber ist diese Haltung aber längst nicht so weitverbreitet wie bei den gewählten Abgeordneten. Eine Umfrage von YouGov aus dem Oktober ergab, dass gerade einmal 50 Prozent der 18- bis 29-jährigen Amerikaner die Hamas, die am 7. Oktober das Massaker gegen israelische Zivilisten verübt hat, als Terrororganisation bezeichnen würden.
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