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Meinung

Pro und Kontra
Braucht die Schweiz neue Atomkraftwerke?

Die Schweizer Stimmbevölkerung sagte 2017 an der Urne Ja zum Atomausstieg – muss der Entscheid überdacht werden? Das Atomkraftwerk Leibstadt im Jahr 2011. 
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Ja, sagt Edgar Schuler

«Energiewende und Stromlücke bewältigen wir nur, wenn wir alle Optionen offen prüfen.»
«Das Verbot neuer Kernkraftwerke ist vom Schweizervolk beschlossen. Es gilt. Aber das muss und darf nicht so bleiben»: Inland-Redaktor Edgar Schuler.


Doch, doch, aus der Geschichte lässt sich lernen. 

Vor 35 Jahren wurde das Kernkraftprojekt Kaiseraugst begraben. Dessen Schicksal ist ein Schulbuchbeispiel dafür, dass die Stromversorgung nicht zum Spielball der Ideologen werden darf. Heute weniger denn je.
Geplant hatten die damaligen Strombarone in Kaiseraugst ursprünglich ein Ölkraftwerk. Dann führte die Ökologie zum Umdenken: Der vergleichsweise sauberen Stromproduktion durch Kernspaltung wurde der Vorzug gegeben. 

Das aber rief radikale Atomkraftgegner auf den Plan. Sie besetzten den Bauplatz, sprengten den Informationspavillon in die Luft und verübten Anschläge auf Kernkraftbefürworter. Der rabiate Widerstand und potenziell verheerende Pannen in in- und ausländischen Kernkraftanlagen liessen die Stimmung im Lande kippen.

Was das Ende von Kaiseraugst brachte

Kaiseraugst steckte in der Sackgasse. Den Ausweg fanden – ausgerechnet – Kernkraftbefürworter. Mächtige bürgerliche Politiker um Christoph Blocher und Ueli Bremi sprangen über ihre langen Schatten. In der wohl richtigen Annahme, dass das konkrete Projekt im Volk jeden Rückhalt verloren hatte, gleisten sie einen Kompromiss auf: endgültiger Projektverzicht, dafür eine 350 Millionen Franken schwere Entschädigung.
Was Blocher und Co. nicht wollten und nicht ahnen konnten: Das Ende von Kaiseraugst bedeutete auch das Aus für weitere neue Kernkraftprojekte in der Schweiz.

Tschernobyl und Fukushima taten ein Übriges. 2017 beschloss das Volk den Atomausstieg. Im Nachhinein darf man sagen: klugerweise ohne ein fixes Enddatum für bestehende Kernkraftwerke. Denn über Nacht wurde unterdessen die Energielandschaft dramatisch umgepflügt. Die Stromimporte, auf die wir uns je länger, je mehr verlassen hatten, wurden mit dem Ukraine-Krieg plötzlich fragil. 

Die Wende weg von Öl und Gas ist dringlich. Eine «Atomkraft, nein danke»-Ideologie passt schlecht dazu.

Es rächt sich jetzt, dass die Schweiz nicht nur dreissig Jahre lang neue Kernkraftwerke verhindert, sondern überhaupt den Zubau von Stromkapazitäten verschlafen hatte. Die neuen Strombarone investierten in Windparks an der Nordsee. Um den helvetischen Bewilligungsdschungel machten sie einen Bogen.
Mit verheerenden Folgen. In der Not musste der Bundesrat diesen Winter im aargauischen Birr ein mit Öl und Gas betriebenes Notkraftwerk aus dem Boden stampfen. Kostenpunkt: 470 Millionen Franken.

Und das ist nur der Anfang. Energieminister Albert Rösti will in den nächsten Jahren für eine weitere Milliarde zusätzliche Gaskraftwerke aufstellen. Sonst, heisst es, ist die klaffende Stromlücke nicht zu füllen. Die Arglist der Zeit führt nun also dazu, dass sich die ökologische Energiewende in ihr fossiles Gegenteil verkehrt. Und das möglicherweise für Aberhunderte von Millionen Franken, die man besser in saubere Energien stecken würde. Grotesk, aber eben nötig.

Der Strombedarf steigt

Unterdessen erlebt aber, unberührt von Schweizer Bedenkenträgern, die Kernkraft eine Renaissance. Neue, kleinere, sicherere Kraftwerke entstehen. Gegenwärtig sind weltweit rund 60 Kernkraftanlagen in Bau. Gut 100 sind geplant. In Finnland wurde eben eine in Betrieb genommen.

Klar: Das Verbot neuer Kernkraftwerke ist vom Schweizervolk beschlossen. Es gilt. Aber das muss und darf nicht so bleiben.

Die Wende weg von Öl und Gas ist dringlich. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Strom – auch für Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge. Zwar ist es möglich, dass die Experten recht haben, die sich von Wasser, Wind und Sonne eine Lösung erhoffen. Genauso ist aber auch möglich, dass wir zusätzlich andere Optionen in Betracht ziehen müssen. Ein betonhartes Technologieverbot und eine «Atomkraft, nein danke»-Ideologie passen schlecht dazu.

Eine demokratische Diskussion auch über neue Kernkraftanlagen tut also not. Wer sie aus einer «Atomkraft, nein danke»-Ideologie heraus verhindern will, hat in einer mit Ernst geführten Energiedebatte nichts verloren.

Nein, sagt Martin Läubli

«Wir sollten uns auf den Weg konzentrieren, der technisch und wirtschaftlich vorgezeichnet ist.»
«Der Bau neuer Reaktoren ergibt keinen Sinn: Das Stimmvolk hat sich mit dem Ja zum Klimaschutzgesetz für eine klimaneutrale Schweiz bis 2050 ausgesprochen»: Martin Läubli, Wissen-Redaktor.


Spätestens seit die Schweizer Bevölkerung vor sechs Jahren an der Urne Nein zu neuen Kernkraftwerken sagte, setzen Forschung und Energieversorger ihren Fokus auf den Bau einer klimaneutralen Energieversorgung in der Schweiz. Im Zentrum stehen erneuerbare Energieträger, vorab Wasser- und Solarkraft. Es gibt inzwischen zahlreiche Szenarien, die aufzeigen, dass die Schweiz mit diesem Tandem als Basis technisch und auch wirtschaftlich gut fahren kann.

Die Kernkraft ist dabei nicht aussen vor. Die Abstimmung damals war nicht mit einem Technologieverbot verbunden. Es gibt nach wie vor eine Professur an der ETH für Kernenergie, das Paul-Scherrer-Institut forscht weiterhin auf diesem Gebiet, im Sinne des Volkswillens geht es dabei vor allem um die Verlängerung und die Sicherheit des Betriebs von Kernkraftwerken.

Fokus auf klimaneutrale Energie

Ein Bau neuer Reaktoren hingegen ergibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Sinn: Das Schweizer Stimmvolk hat sich mit dem Ja zum Klimaschutzgesetz für eine klimaneutrale Schweiz bis 2050 ausgesprochen.

Das heisst: Es braucht nun so schnell wie möglich einen Plan mit klimaneutralen Energieträgern, die vorhanden und kostengünstig sind. Das trifft bei der Solar- und Windkraft zu. Die Kosten dürften sogar weiter sinken.

Ein neues Kernkraftwerk wäre nicht vor 2040 in Betrieb. Diese Unsicherheit passt nicht in den Schweizer Energieplan.

Kleinere Reaktoren der neusten Generation, sogenannte «small modular reactors», wären für die Schweiz grundsätzlich eine Option. Diese sind aber erst in Entwicklung. Die Kommerzialisierung dieser Anlagen wird nicht vor 2030 beginnen. Heute kann also nicht abgeschätzt werden, wie viel eine Kilowattstunde Strom kosten wird.

Kommt hinzu, dass erfahrungsgemäss das Bewilligungsverfahren für Bau und Betrieb mindestens zehn Jahre, wenn nicht mehr dauern würde in der Schweiz.

Ein neues Kernkraftwerk wäre also nicht vor 2040 in Betrieb. Diese Unsicherheit passt nicht in den Energieplan, den die Schweiz so schnell wie möglich umsetzen muss.

Es geht auch um Wärme

Kernkraft passt auch nicht ins Gesamtkonzept der Energieversorgung. Nehmen wir das Beispiel Winterstrom, ein Knackpunkt, weil die Sonne deutlich weniger Energie in dieser Jahreszeit liefert.

Gas- oder Blockheizkraftwerke können neben der Wasserkraft bei Strommangel aushelfen. Sie können in Zukunft mit klimaneutralem, synthetischem Brennstoff betrieben werden, der wiederum durch überschüssigen Solarstrom im Sommer produziert wird. Zudem liefern sie auch Wärme für Industrie und Haushalte.

Es geht eben bei der klimaneutralen Schweiz nicht nur um Strom, sondern auch um Wärme.