Rapper Emicida erklärt seine Heimat«Brasilien will sich niemandem mehr unterordnen»
Emicida ist einer der bedeutendsten Musiker Brasiliens und eine Art moralische Instanz des Landes. Wir haben ihn getroffen und über den momentanen Zustand Brasiliens unter Lula befragt.
Als Leandro Roque De Oliveira die Bühne der Progr-Turnhalle in Bern betritt, erschallt ein Kreischen wie zu besten Beatles-Zeiten. Es gibt – wie sich bald herausstellt – kaum jemanden im Raum, der nicht in irgendeiner Weise mit dessen Heimatland Brasilien verstrickt ist und die Refrains von ihm mitzusingen weiss.
Denn die Poesie des Rappers, der unter dem Namen Emicida die Musikwelt erobert hat, besteht nicht aus Hip-Hop-typischen Kraftmeiereien, seine portugiesischen Texte handeln von den kleinen Freuden des Alltags, von Zusammenhalt, Hoffnung und von Freundschaft. Und – in den zornigeren Momenten des Konzerts – singt er innigst gegen Rassismus und andere dunkle Problemzonen seiner sonnigen Heimat an.
Emicida ist in Brasilien ein Superstar, füllt Hallen, ist Headliner der grössten Festivals des Landes, veröffentlicht Kinderbücher mit schwarzen Superheldinnen, und Netflix hat ihm bereits zwei Dokumentationen gewidmet. Wenn er sich zu einem Thema zu Wort meldet, dann löst das meist landesweite Debatten aus. Eine gute Gelegenheit also, ihn nach dem Konzert zur Seite zu nehmen und mit ihm über den gegenwärtigen Zustand Brasiliens unter dem neuen Präsidenten Lula da Silva zu reden.
Seit dem Regierungswechsel ist Brasilien nur noch in den Schlagzeilen, wenn Lula wieder mit den Machthabern in China flirtet oder Pläne für den Frieden in der Ukraine ankündigt. Wie ist die Stimmung im Lande?
Auch wenn das im sogenannten kulturellen Westen oft nicht verstanden wird: Was Lula versucht, ist, sich eine multipolare Welt vorzustellen, in der die südliche Hemisphäre in jeder Hinsicht autonom ist. Ausserdem wird er nicht müde, alle Länder aufzufordern, einen Weg zur Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine zu finden, anstatt sich einfach auf eine Seite zu schlagen.
Dass sich Brasilien politisch zwischen den Blöcken bewegen möchte, ist das eine. Doch die Haltung zum Krieg irritiert. Frieden und Gespräche wollen alle. Doch ohne Hilfe wäre die Ukraine doch längst von der Landkarte getilgt. Da irritiert es schon, wenn Lula den Handel mit Russland gar forciert und den USA und der Ukraine eine Mitschuld am Krieg zuschreibt.
Brasilien hat zwei UNO-Resolutionen unterstützt, in denen der Einmarsch der Russen in die Ukraine verurteilt und der sofortige Rückzug der Truppen aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet gefordert wird. Historisch gesehen hat das Land – wie die Schweiz – in dieser Art von Konflikten stets eine neutrale Haltung eingenommen.
Und doch hat man den Eindruck, Lula stimme gerade sehr beherzt in den antiamerikanischen Chor vieler lateinamerikanischer und afrikanischer Regierungen ein.
Brasilien ist kein Land mehr, das sich den Interessen von irgendjemandem unterordnen mag. Es gibt eine interessante Episode im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg, als die Vereinigten Staaten Brasilien einluden, sich an der Offensive zu beteiligen. Lula reagierte damals negativ und sagte, Brasilien kämpfe gegen den Hunger. Ich denke, dass die Grundlage seiner Argumentation noch immer ähnlich ist.
«Brasilien hat 1888 die Sklaverei abgeschafft, doch es gibt bis heute deutliche Zeichen davon in unserer Gesellschaft.»
Wie bewerten Sie die ersten 100 Tage von Lulas neuer Amtszeit aus innenpolitischer Sicht?
Lula hat zunächst einige seiner historischen Versprechen bekräftigt, wie zum Beispiel die Erhöhung der Bolsa Familia, einem wunderbaren Programm für Einkommenstransfers, das allein natürlich nicht ausreicht, aber grundlegend ist, um die beschämende Ungleichheit in Brasilien zu bekämpfen.
Ein anderes Versprechen war, dieses gespaltene Land zu einen. Wird das eine Utopie bleiben?
Es ist uns als Gesellschaft in Brasilien vor etwas mehr als 20 Jahren gelungen, einen Konsens über Dinge zu erzielen, die offensichtlich waren und angegangen werden mussten, wie zum Beispiel soziale Ungleichheit, Hunger und Analphabetismus. Heute muss dieser Dialog wieder aufgenommen werden. Denn der grosse Triumph des Neoliberalismus besteht derzeit darin, die Menschen davon zu überzeugen, dass es nutzlos ist, sich kollektiv zu organisieren, dass diese Ungleichheiten natürlich und sogar vorteilhaft sind und dass jede Bewegung, die in die entgegengesetzte Richtung dieser Gedanken geht, zum Scheitern verurteilt ist.
Man muss also Brasilien nach vier Jahren Bolsonaro zuerst wieder davon überzeugen, dass ein geeintes, solidarisches Land vermutlich besser funktioniert als ein geteiltes. Schafft das eine polarisierende Figur wie Lula?
Lula ist ein hervorragender Verhandlungsführer, und ich glaube, dass er die Fähigkeit hat, die unterschiedlichen Meinungen auf den Tisch zu bringen und den Konsens wieder aufzubauen. Und danach intensivieren wir die Arbeit an einer Lösung.
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Wie viele Ihrer Freundschaften sind während der Ära Bolsonaro aufgrund politischer Differenzen zerbrochen?
Keine. Ich habe keine überzeugten Bolsonaro-Freunde. Ich habe vielleicht Bekannte, und ich finde es interessant, mit ihnen zu sprechen und zu verstehen, aus welchen Gründen sie in einer so deprimierenden und leeren Figur wie Bolsonaro etwas Positives finden.
Was haben diese Gespräche ergeben?
Ein Freund von mir hat 2018 für Bolsonaro gestimmt. Der Kontext: Er ist ein Arbeiter, untere Mittelschicht, in einer gewalttätigen Stadt wie São Paulo. Er glaubt an die Idee der Leistungsgesellschaft, ist eher konservativ und wurde in der Wahlwoche Opfer eines Raubüberfalls, was für die Wahl seines Kandidaten entscheidend war. Die brasilianische Linke reagiert in der Regel eher hilflos auf solche Vorfälle, was dazu führt, dass viele Menschen auf die Gegenseite drängen. Sie schliessen sich opportunistischen Projekten an, die vereinfachte Antworten und falsche Hoffnungen für komplexe Themen bieten. Es interessiert mich, dies zu lesen, was ich oft als blinden Fleck der Linken betrachte.
In diesem polarisierten Brasilien verkörpern Sie so etwas wie die Stimme der Vernunft. Welchen Wert hat die Poesie in solch dunklen Zeiten?
Was ich versuche, ist, den Wert der kleinen, einfachen Dinge hochzuhalten. Damit folge ich einer wunderbaren Tradition, die sich bereits in der brasilianischen Poesie und vor allem in jener des Sambas findet. Die sozialen Medien, der Individualismus und Narzissmus unserer Zeit, haben eine Reihe ziemlich übler Gewohnheiten hervorgebracht, weil das System der digitalen Plattformen dieses Streben nach plakativer Aufmerksamkeit belohnt.
Sie haben in den letzten vier Jahren immer klar Stellung gegen Bolsonaro bezogen – etwas, was viele Musiker in Brasilien nicht gewagt haben. Mit welchen Konsequenzen?
Jeder und jede in der Welt der Kunst hat in irgendeiner Weise unter den Folgen gelitten, da das Ministerium für Kultur praktisch abgeschafft wurde. Das war ein schwerer Schlag der Regierung Bolsonaro. Dabei ist die brasilianische Kultur einer der grössten Trümpfe des Landes. Die Menschen auf der ganzen Welt empfinden Brasilien dank seiner Kultur als einladendes Land. Lula hat nun mit der Sängerin Margareth Menezes eine tolle und willensstarke Künstlerin als Kulturministerin eingesetzt, welche den angerichteten Schaden zu beheben versucht. Ich drücke ihr die Daumen.
Der strukturelle Rassismus in Brasilien hat unter Bolsonaro einen neuen Höhepunkt erreicht. Während der Pandemie starben mehrheitlich People of Color, der Landraub im Amazonas ging weiter. Was ist Ihr Rezept, diese Ungerechtigkeiten zu tilgen?
Es gibt kein Patentrezept. Der Rassismus wurde nicht in den letzten vier Jahren geboren, ebenso wenig wie das Morden an den Indigenen. Wir haben aber viel zu lange so getan, als ob es uns gelungen wäre, Versöhnungen herbeizuführen, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden haben. Im Gegenteil. Statt die Ungleichheit anzugreifen, wurde die Erinnerung angegriffen.
Brasilien hat das Kapitel der Sklaverei nie aufgearbeitet?
Brasilien hat 1888 die Sklaverei abgeschafft, doch es gibt bis heute deutliche Zeichen davon in unserer Gesellschaft. 1889 ging unsere Republik aus einem Staatsstreich hervor. In der Hymne aus demselben Jahr heisst es im Text, dass man nicht glauben kann, dass es in anderen Zeiten Sklaven in diesem Land gab. Das heisst, ein Jahr nach der Befreiung der letzten 700’000 versklavten Afrikaner, die ein Dasein unter beklagenswerten Bedingungen fristeten, gaben die Gründer der Republik eine Hymne in Auftrag, die das verleugnete, was bis dahin das Rückgrat dieser Gesellschaft gewesen war. Das ist heute nicht anders.
In Ihren Texten vermitteln Sie Werte, die für den Hip-Hop eher untypisch scheinen: Es gibt keinen Glamour, keine Prahlereien und kaum Gewalt. Wie lebt es sich als Gandhi der brasilianischen Rapmusik?
Ich bin bestimmt kein Gandhi. Ich möchte einfach über das wirkliche Leben schreiben. Meine Vorbilder, die Liedermacher, die Dichter. Die Samba-Grossmeister haben Werke geschaffen, die auf den Schmerzen und Freuden der menschlichen Erfahrung basieren. Der Prunk, die Glamourisierung eines überflüssigen Lebensstils ist etwas, das mich poetisch nicht interessiert. Ich habe wirklich gewalttätige Dinge erlebt. Und wer das erlebt hat, will diese Dinge nicht verherrlichen, er will sie vergessen.
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Was sind die besonderen Merkmale der brasilianischen Hip-Hop-Szene?
Es ist sehr schwierig, aufgrund der übersprudelnden brasilianischen Kultur etwas nach Brasilien zu bringen, ohne dass es von diesem Monster mit den tausend Tentakeln, das unsere Kultur ist, erdolcht wird. Egal ob Kino, Fotografie, Tanz oder Musik, alles, was in Brasilien existiert, nimmt irgendwie landestypische Formen an. So auch der Hip-Hop.
Und wie klingt das?
Lange bevor die Vereinigten Staaten dieses Phänomen als Hip-Hop bezeichneten, gab es bei uns eine Form des Reim-Battles namens Repente, bei dem sich Repentistas zu den Beats ihrer Tamburine duellieren. Manchmal auch mit ihren Gitarren. Es gibt nichts Rhythmischeres und Poetischeres als das. Es ist also im Grunde genommen Rap. Es gibt eine fantastische Geschichte von einer Figur namens Inácio da Catingueira, einem Nachkommen versklavter Afrikaner, der seine Freiheit gewann, nachdem er seinen Herrn in einem Reim-Battle besiegt hatte. Das ist Hip-Hop, Kunst als Werkzeug, um die Welt auf eine echte und tiefgreifende Weise zu verändern. Unser Hip-Hop wird also nie eine Kopie von dem sein, was in den USA gemacht wird.
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Auf Ihrer Website findet man Socken, Mauspads, Flip-Flops oder Turbane von Emicida. Verdient man in Brasilien mittlerweile mehr Geld mit Merchandising als mit Musik?
Überall auf der Welt müssen Künstler neue Wege finden, wie sie ihr Geld verdienen können. Das Managen einer Karriere besteht schon lange nicht mehr nur aus dem Verkauf von Platten und Auftritten. Es gehört viel mehr dazu. Heute geht es darum, eine Geschichte zu erzählen. Unser Rohmaterial ist die Kreativität. Ob am Ende ein T-Shirt, eine Modenschau, ein Dokumentarfilm oder eine Tournee herauskommt, ist eine andere Sache.
Herrscht nach vier Jahren Bolsonaro eine Aufbruchstimmung in der Kulturszene?
Es gibt einen Optimismus. Natürlich war Bolsonaro eine Tragödie, aber Brasilien befand sich bereits auf einem gefährlichen Weg der Verfolgung von Künstlern, manchmal durch reaktionäre Kräfte, aber auch durch sogenannt progressive Szenen. Es ist ein schwieriges Umfeld für Künstler.
Welche Versprechungen hat Lula den Künstlern gemacht?
Ich glaube, dass es die Aufgabe der Regierung ist, Mechanismen zu schaffen, die es der brasilianischen Kultur ermöglichen, sich zu entfalten, und nicht unbedingt Versprechungen an diese oder jene Gruppe zu machen. Es ist wichtig, eine Politik zu entwickeln, die zu einer staatlichen Politik wird und nicht zu einer Regierungspolitik, damit der Sektor nicht den autoritären Launen der zukünftigen Regierung ausgeliefert ist. Ich weiss auch, dass staatliche Unterstützung nicht die einzige Dimension ist, in der sich Kunst abspielt. Die Künstler können nicht ausschliesslich von dieser Beziehung abhängig sein, denn das schränkt unsere Kritikfähigkeit ein.
Emicida tritt am Do., 20. Juli, am Paléo in Nyon auf. Aktuelles Album: «Amarelo ao vivo» (2021)
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